Ludmilla von Arseniew – Die Freiheit der Kunst
Immatrikulationsrede, gehalten am 3.11.1976 in der Abteilung für Kunsterzieher der Staatl, Kunstakademie Düsseldorf in Münster
Liebe Kommilitonen und Kommilitoninnen, meine Damen und Herren!
Als mir der vom Leiter des Instituts als ehrenvoll bezeichnete Antrag, heute hier vor Ihnen eine Rede halten zu sollen, mitgeteilt wurde, befiel mich mehr ein Gefühl der Beklemmung als das einer ehrenvollen Aufgabe.
Zum einen ist das Sprechen in der Form des Vortrags nicht mein Beruf, zum anderen empfand ich keine Notwendigkeit, worüber unbedingt, in diesem Hause, zu dieser Zeit, zu Ihnen allen, gerade ich, sprechen müßte.
Zwar übt der Hochschullehrer in seiner künstlerischen Klasse das Reden aus, gesprächsweise, dialogisch, auch monologisch, doch stets bezogen auf ein Vorliegendes, sei es ein Kunstwerk, eine Schülerarbeit oder die Frage eines Menschen. Etwas in dieser Weise unmittelbar für diese Rede Vorliegendes nicht in mir vorfindend und in reflektierender und diskutierender Weise beschäftigt mit den macht- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen des vergangenen Jahres um „freie Kunst“ und das künstlerische Lehramt, um die neue Akademieverfassung, um Studiengänge, um Studien- und Prüfungsordnungen, kreisten alle meine mit diesen grundlegenden Änderungen befaßten Überlegungen um die dort immer mehr schrumpfende Freiheit der Kunst.
So entschloß ich mich, dies: die „Freiheit der Kunst“ als ein gerade für uns alle in einer sehr verwickelten Weise akut Vorliegendes zu ergreifen; wissend, daß Bewährtere, Gestandenere als ich, hierüber schon zu allen Zeiten so mannigfaltig, tief Einsichtiges gesagt und geschrieben haben, daß mein Entschluß als überflüssige Vermessenheit erscheinen mag.
Und doch, immer wenn diese Freiheit offen oder verdeckt von den Menschen selbst verdrängt wird, sollte jeder, dem dies bewußt wird, seinen Kräften entsprechend dagegen aufstehen.
Überdies hatte ich mich entschlossen, die Sommersemesterferien, die in der Universität aus gutem Grund vorlesungsfreie Zeit genannt werden, in Gänze einem künstlerischen Vorhaben zu widmen. Indem ich auf den beim Arbeitnehmer üblichen Urlaub verzichtete, wollte ich – von der Lehre frei – außerhalb der gewohnten Umstände, in Venedig nämlich, künstlerisch arbeiten.
Die Aufgabe, diese Rede in derselben Zeit verfertigen zu müssen, störte mich in meiner künstlerischen Neuerfahrung so nachdrücklich, daß ich gerne einem Rat von Eugen Rosenstock-Huessey gefolgt wäre, den er 1950 in seiner Rede dem Auditorium der Universität Göttingen als einleitende Anekdote zum Beispiel universitärer, akademischer Freiheit gab.
Ich will hier die Anekdote nicht ausbreiten, nur sagen, daß ihre Quintessenz darin besteht, daß der freie, der um seine Wirklichkeit schaffend besorgte Mensch, gegen an sich nützliche Konventionen, Regeln, Vorschriften und Ordnungen, seine vordringlichen Notwendigkeiten zu verwirklichen, sich die Freiheit nehmen soll und muß, weil nur diese Haltung eigene Wirklichkeit erzeugt.
Konsequenterweise hätte ich mich also, diese Freiheit uneingeschränkt in Anspruch nehmend, ohne Rücksicht auf die Vorbereitung dieser Rede, ausschließlich meinem Vorhaben widmen müssen. Ich habe es nicht getan. Wäre ich nur diesem Anspruch von Freiheit des gerade schöpferisch Notwendigen gefolgt, stünde ich heute nicht mit meiner Ansprache vor Ihnen. Ich hätte stattdessen vielleicht ein wie auch immer zu wertendes künstlerisches Werk, aber keine Rede verfertigt.
Dieser Konflikt zielt mitten in Ihre, in unsere Probleme, die wir mit der Hervorbringung und dem Begreifen von Kunst, mit der Akademie, mit der Studium genannten Ausbildung, mit dem Beruf – der von der Berufung weg zur bloßen Arbeit geraten ist -, mit der Kultur in der Gesellschaft, täglich erleben.
Dieser Konflikt zwischen Freiheit und Bedingtheit, die sich stets gegenseitig in unauflöslicher Einheit begleiten, führt zu mehreren Überlegungen über die Haltung des Künstlers zu Wirklichkeit, zu Macht, zu Verantwortung und zu Wahrheit. Immer ist dabei Freiheit eine unverzichtbare Bedingung, daß Wirklichkeit wird, daß Macht nur nach bestem Wissen und Gewissen ausgeübt wird, daß Verantwortung uns alle trägt, daß Wahrheit geschehen kann.
„Die Zweifel der Künstler früherer Zeiten betrafen ihr eigenes Talent. Die Zweifel der Künstler heute betreffen die Notwendigkeit ihrer Kunst, also ihre Existenz an sich“ bemerkt Albert Camus in seinem 1957 in der Universität Uppsala gehaltenen Vortrag.
Dieser immer noch gegenwärtige Zweifel des Künstlers (und nicht nur der Gesellschaft) an der Berechtigung seines Tuns eröffnet sein deutlich unsicheres, unentschiedenes, verwirrtes Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Bedeutung des Schöpferischen in ihr.
Versucht er ein getreues Abbild der Wirklichkeit zu geben, gerät er in die vernichtende Konkurrenz mit der Natur und mit dem Leben, die abzubilden eine völlig überflüssige und hybrishafte Wiederholung der Entstehung des Kosmos und seiner gesamten Geschichte wäre. Er müßte verzweifeln an der Inkonsequenz seines Verhaltens, doch immer nur ein Stückchen aus dem Ganzen der Umwelt auswählen zu können, weil er selbst, an Raum und Zeit gebunden, die totale Imitation nie leisten kann. Leistet er sie im ausgewählten Stückchen dennoch, so reproduziert er im vollständigsten Falle ein vorgegebenes Ding und gerät so unwillkürlich zum Fabrikanten mit allen Folgezwängen des Mechanischen. Er gewinnt qualitativ nichts mehr an Wirklichkeit als schon vorhanden ist, und er verliert obendrein sein unmittelbares Verhältnis zu ihr.
Was also kann der Künstler außer der Imitation in seinem verunsicherten Verhältnis zur Wirklichkeit anderes tun, womit er seiner Tätigkeit einen Sinn geben könnte?
Der Last von unverbindlich gewordenen Bedeutungen und Inhalten im ewig gestrigen Gewand mit Recht überdrüssig, erklärt er die Kunst um ihrer selbst willen zur unabhängigen Wirklichkeit, die keiner anderen Realität als ihren selbstgegebenen Spielregeln verpflichtet ist.
Hier endlich scheint eine geglückte Bereinigung von allen falschen Bindungen gelungen. Entbunden von der Verpflichtung gegen die außerkünstlerische Wirklichkeit ist die Kunst sich selbst ihr Gegenstand und Maß. Aber ist das in aller Konsequenz möglich? Wie sieht solche Kunst aus? Wird sie nicht eine unkonkrete Utopie, erzeugt aus der verständlichen Abwehr leer gewordener Ansprüche und aus der ewigen Sehnsucht nach absoluter Freiheit? Im Gefolge dieses von der Wirklichkeit, wie auch von der eigenen Kunstradition befreienden Postulats ist eine große Zahl von Werken entstanden, die, entweder dieser Forderung nicht konsequent Folge leisteten, und damit die Chance behielten, Kunst zu werden, oder aber jene Flut von willkürlichen Abstraktionismen hervorbrachten, die die heillos subjektivistische Willkür einer in jeglicher Wirklichkeit desorientierten, auf nichts Gemeinsames bezogenen Betriebsamkeit zur Schau stellten. Diese Kunst war dann zwar eine Wiederspiegelung der weltanschaulichen Konfusion und Verlorenheit aller, sie war jedoch nicht imstande, dieses Wirkliche über die Anschauung durch ein sichtbarmachendes Werk ins Bewußtsein zu heben. Die Entfremdung des absolut gesetzten Ich von der Wirklichkeit verlor alle Fähigkeit, durch schöpferische Anverwandlung, Wirklichkeit im Bewußtsein des Menschen zu erzeugen.
Hierin gehören jene unverbindlichen Formalismen und langweiligen Spitzfindigkeiten, die im Akademiejargon so gerne „Ideen“ genannt werden, die den Künstler wie den Betrachter um die Kunst betrügen und um die anschauliche Aneignung der Wirklichkeit bringen. Die Hypertrophie eines in die bindungslose Leere absolut gesetzten Ich erzeugt jene innere Ferne, die den gesellschaftlichen Haß auf die Kunst nach sich zieht.
Das Wort „Dichter“ in unserem Falle durch das Wort „Künstler*“ ersetzend, möchte ich diesen Gedanken durch ein Zitat von Elias Canetti erweitern: „Wenn das Wort Künstler* (Dichter) für viele zerlöchert war, so war es, weil sie eine Vorstellung von Schein und Unernst damit verbanden, etwas, das sich entzog, um sich’s nicht schwer zu machen. Die Verbindung von hohen Allüren mit dem Ästhetischen, in allen Schattierungen, unmittelbar vor dem Eintritt in eine der düstersten Perioden der Menschheitsgeschichte, die sie nicht zu erkennen vermochten, als es schon über sie hereinbrach, war nicht dazu angetan, Respekt einzuflößen; ihr falsches Vertrauen, ihre Verkennung der Wirklichkeit, … ihr Ableugnen jeglicher Verbindung damit, ihre innere Ferne von allem, was faktisch geschah,…“, das ist die Künstlerposition, aus der heraus der Betrachter im Kunstwerk nur eben das wiedererleben kann, was schon der Künstler unbezogen, eben „nur so“ gemacht hat. So kann der Sinn von Kunst nicht einsichtig werden und auch ihre Freiheit nicht gemeint sein.
Wo geistige, aber auch jede andere Willkür ihre Macht ausbreitet, entsteht in der Folge Terror, und die Freiheit der Kunst ist für alle verspielt. Nun muß der naheliegende Eindruck entstehen, nur noch eine „engagierte Kunst – im heute häufig benutzten Sinn – könne diejenige sein, welche Wirklichkeit für das Bewußtsein ins Werk zu setzen vermag. Doch betrachten wir näher, aus welchem Verhältnis zur Wirklichkeit das Engagement sich ernährt, so erkennen wir, daß dem Engagierten stets eine „bessere Realität“ als die gerade erlebte vorschwebt, also nicht die gegenwärtige Wirklichkeit, sondern die Utopie einer besseren Zukunft. Sei das nun die pragmatisch orientierte Versprechung von z. B. unvergänglicher Schönheit, übermorgen, durch eine Seife in der Reklame oder das Schlaraffenland einer eschatologisch betriebenen Zukunft in der Propaganda. Der aus der Motivation für eine bessere Zukunft schaffende Künstler muß stets die gegenwärtige Wirklichkeit nicht nur ablehnen, ja er kann ihr sozusagen zu Lebzeiten gar nicht begegnen, da seine Anschauung stets auf den fernen Horizont des „noch nicht“ gerichtet ist.
In der Folge entwachsen seine Werke nicht einem unmittelbaren Verhältnis zur Wirklichkeit aus der Anschauung, sondern stets nur aus der Vorstellung von einer besseren Realität, die er versucht, im Kunstwerk quasi vorweg-, vorauszuzeigen. Seine Erzeugnisse können nur demonstrieren, projizieren und illustrieren, was sie vor-wissen, statt sichtbar machen, was der Künstler in der Wirklichkeit durch Anschauung vorfindend, auswählend und formend in seinem Werk im Bewußtsein des Menschen wirklich werden lassen kann. Der Engagierte kann dagegen nur die Vorstellungen indoktrinieren, der er programmgemäß festgelegt hat. Hier verschwindet die Freiheit der Kunst, weil die Wirklichkeit zugunsten einer Utopie übersehen wird.
Zusammenfassend gesagt:
Im imitativen Wirklichkeitsverhältnis tritt Wirklichkeit gar nicht erst ins Bewußtsein, Freiheit hat keine Chance, Kunst kann nicht entstehen.
Die vermeintliche Freiheit der absoluten Abstraktion macht die Kunst im wörtlichen Sinn gegenstandslos, entkleidet sie ihrer Verbindlichkeit zur Welt und tauscht die anfänglich begründet erstrebte Freiheit für die Willkür subjektiver Einfälle ein, denen keine Verbindung mehr zu einer gemeinsam erlebbaren Realität gelingen kann.
Die „engagierte“ Kunst lehnt unbewußt die wie auch immer geartete gegenwärtige Wirklichkeit ab und opfert in der Hoffnung auf eine zukünftige Wirklichkeit die Freiheit den unbegrenzten Zwängen und der Intoleranz eines Inhalts- und Formprogramms.
Wie aber soll das Verhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit sein, damit er nicht in die Fallen der vorgenannten Unfreiheiten geht? – Der Künstler ist ja selbst ein Teil der Wirklichkeit, und was heute gern von Künstlern verdrängt wird, zur Wirklichkeit gehört notwendig auch die Kunstüberlieferung. Gerade durch sie können wir uns die Erfahrungen und Einsichten unzähliger Menschengenerationen als selbst erfahrbare Wirklichkeit aneignen. So setzt die Kunst Maßstäbe für die Wirklichkeit, ohne die wir immer wieder von vorne beginnen müßten.
Darüber hinaus aber steht der Künstler in einem Spannungsfeld zwischen seinem Eingefügtsein ins Ganze der Wirklichkeit und dem Erlebnis seiner subjektiven Anschauung. Er gehört zu seiner Zeit, er teilt ihre Fehler und Schwächen. Dies ist eine notwendige Einsicht in seinen Zusammenhang mit der Wirklichkeit, denn nur diese Haltung ermöglicht ihm Mitgefühl für Menschen und Dinge und die angemessene Bescheidenheit seinem eigenen Vermögen gegenüber. Er ist also einerseits gleich und erlebt sich doch auch als unterschieden und besonders. Doch er kann die Nur-Gleichheit so wenig proklamieren wie die Unterschiedenheit zur Maxime erheben, ohne unmittelbar aus der Wirklichkeit herauszufallen in die vorher beschriebenen Bedingtheiten. Er steht also dazwischen und versucht in seiner Kunst die Welt und seine Empfindung, das Wirkliche und das Subjektive einander anzunähern.
Seine Kunst vermittelt zwischen der Dinghaftigkeit der Welt und der Subjektivität seines erlebenden Ich. Der Künstler erschafft in der Kunst die Welt erneut, damit sie für ihn und für seine Mitmenschen im anschaulichen Bewußtsein sichtbar und erkennbar wird.
Hier ist eine Beziehung der Kunst zur Wirklichkeit beschrieben, die die Kunst weder autonom aus dem Ganzen heraussetzt, noch in die Versklavung der Wiederholung verstößt, noch in die kleinliche Enge des fanatischen Kampfes treibt.
Damit der Künstler dieser gemeinten Wirklichkeit in Freiheit anschauend begegnen kann, bedarf es seiner offenen und absichtslosen Wahrnehmung, seiner hingebenden Bereitschaft, gelassen und in Liebe aufnehmen zu können, was er vor sich sieht. Er muß mehr verstehen, denn urteilen. Er eignet sich die Wirklichkeit an als einer, der durchlässig ist in allen seinen Sinnen, als Person, zu innerer Resonanz befähigt, dies alles, um eine nicht vordefinierte, schon begrifflich gefaßte Realität ins Werk setzen zu können. Wenn er Glück hat, gelingt es ihm, in Einheit mit dem Wirklichen zu geraten und daraus ohne bezweckende Absicht im Werk zu handeln, ohne Willen auszuwählen, ohne ehrgeizige Tendenz zu verdeutlichen, ohne Dogma Maßstäbe zu setzen. Alles Paradoxien, die jedoch in der Kunst selbst auflösbar sind.
Nur dann ist der Künstler frei in seiner Kunst, nur dann begegnet er der Wirklichkeit, wie sie ist, wenn er sich ihr voller Vertrauen öffnet, ohne Angst und Sorge ausliefert, da er ja ein Teil von ihr ist, ein Mit-Wirklicher sozusagen, in dem die Dinge wiederklingen, die er zu Einsichten strukturiert in seinem Werk, womit er nicht nur sich selbst Wirklichkeit aneignet, sondern auch allen Menschen im Werk hinterläßt, als Quelle, Wirklichkeit in ihrem Wesen anschaulich zu erkennen.
So vergrößert Kunst unsere Freiheit, indem sie uns aus der despotischen Welt der Tatsachen befreiend, diese in Wirklichkeit verwandelt, welche im Bewußtsein anschauliche Erkenntnis wird.
Aus der geschilderten Beziehung des Künstlers zur Wirklichkeit leiten sich folgerichtig seine Entscheidungen in der Konfrontation mit der Macht, seine Befähigung zu Verantwortung und sein unaufgeblicher Glaube an die Verwirklichung von Wahrheit ab.
Am Verhältnis des Künstlers zur Macht erkennt man vielleicht am deutlichsten sein Verhältnis zur Freiheit der Kunst. Der Künstler ist zu allen Zeiten mit der Macht konfrontiert gewesen und mußte sich entscheiden, nicht nur für oder gegen die äußeren Machthaber in Politik und Kultur, sondern auch für oder gegen den inneren eigenen Machtwillen.
Die Freiheit der Kunst, wie ich sie vorhin als im Anschaulichen Wirklichkeitserzeugende beschrieben habe, kann nicht realisiert werden, wenn wir in „ängstlicher Unterwürfigkeit“ (Solschenizyn), aus Furcht vor Mißachtung oder Nichtbeachtung, dem Druck der Mächtigen nachgebend, nicht nur die eigene, sondern unser aller Freiheit aufgeben; wenn wir aus der stetigen eitlen Furcht, als konservativ, nicht up to date, nicht fortschrittlich zu gelten, die sinnvollen und erkenntnisreichen Erfahrungen der Geschichte unserer Kultur, im hier engeren Sinne: unserer Kunst leichthin über Bord werfen oder verschweigen, um von der Last ihres Reichtums, ihrer Größe, ihres Maßes befreit, uns nicht eingestehen zu müssen, wie wenig wir selbst, wie vermessen unsere Selbstbehauptungen sind, und statt dessen diese beglückende Quelle gegen die dürre Trockenheit von allerlei modischem oder verfügtem Unsinn eintauschen.
Wir hier, leben in einer liberalen Gesellschaft, die die Kunst nicht als wirklichkeitsschaffende und wirklichkeitsformende erlebt und erwartet; im Gegensatz zu totalitären Gesellschaftssystemen, die die Freiheit der Kunst fürchten, weil sie sehr wohl wissen, daß die Kunst das Bewußtsein der Menschen so weitreichend und nachhaltig zu formen vermag, daß die herrschende Macht entweder dieses sich stetig erneuernde Bewußtsein in ihre Herrschaft mit einbeziehen muß – dann verliert sie ihre Vormacht – oder aber die Freiheit der Kunst durch Gewalt vernichten muß – dann behält sie ihren Status.
Diese glauben also an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Kunst und nehmen sie im wörtlichen Sinn todernst, deshalb beugen sie mit allen Mitteln ihre Freiheit um ihrer utopischen oder selbsterhaltenden Ziele willen.
Die liberalen Gesellschaftssysteme lassen zwar alles zu, jeder Künstler kann hervorbringen, was er will im Rahmen seiner persönlichen und privaten Bedingungen. Doch durch die existentielle Verhältnislosigkeit, durch die so viel gepriesene pluralistische Gleich-Gültigkeit gegenüber aller substanziellen Kraft der Kunst, verhindern sie ihre Wirksamkeit, vernichten sie indirekt ihre wahre Freiheit und schwächen und ermüden die schöpferischen Kräfte ihrer Künstler. – Es soll hier jedoch nicht übersehen werden, daß in diesem Verhältnis nicht nur „die Anderen“, sondern auch die Künstler selbst stehen.
Wie wir sahen, lebt die Freiheit der Kunst nicht vom bindungslosen Ins-Willkürliche-Setzen von Irgend-Etwas, sondern aus der durch Interesse zwischen Ich und Welt gestaltgewordenen Ansprache und Bezogenheit des Menschen.
Die ernsthafte Bedrohung unserer künstlerischen und geistigen Verwirklichungsmöglichkeit wird gerade wirksam im Gleich-Gültigen, im Sinne von alles ist in gleicher Weise gültig, im mangelnden Anspruch, im nicht anzutreffenden Bedürfnis, das uns, die Künstler als für sich nötig, nämlich für das gemeinsame Leben notwendig verstünde. Statt dessen vernutzt man auf allen Seiten die Kunst zum dekorativen, nichtigen, unterhaltsamen Zeitvertreib oder zum repräsentativen Aushängeschild drinnen wie draußen; oder man zieht aus ihr vom Wert her einen imaginären, vom Materiellen her verschämt klagend einen merkantilen Gewinn, oder man hausiert schließlich mit der Kunst als ewiger Bildungsleiche, die belästigt und zugleich einschüchtert und die dennoch niemand endgültig zu begraben wagt in der sich seit Jahren um und um wälzenden Bildungspolitik, an welchen Vorgängen wir im übrigen alle beteiligt sind.
So raubt die Liberalität dem Künstler seinen lebenswichtigen Boden, die Ursache, den Grund, aus dem und für den er Wirklichkeit durch Kunst erzeugen will und muß.
Die „Macht“ der Gleichgültigkeit bewirkt in der Folge die Anpassung des Künstlers an das gerade zum Neuesten erklärte. Die müßige Originalitätssucht des Fortschrittlichen beherrscht und gebiert kurzlebige Machwerke, denen der Künstler, aus wenn auch verstehbarer so doch schwächlicher Sehnsucht nach persönlicher Geltung nachhängt, denen er – Sie mit der gültigen Wirksamkeit seines Werkes verwechselnd – folgt oder die er sensationell zu überreizen sucht, und auf diese Weise vernichtet er in sich seine besten schöpferischen Kräfte im Erzeugen von Klischees und unverbindlichen Formhülsen. – Spürt er aber den substanziellen Verlust seiner ehemaligen schöpferischen Antriebskräfte, so verscheucht er diese Skrupel rasch, um die scheinhafte Wärme einer Cliquengemeinschaft nicht gegen die meist unerträgliche Einsamkeit des Nichtdazugehörenden, des Isolierten zu vertauschen, dem auch die unfruchtbare Gefangenschaft im Elfenbeinturm gefahrvoll ins Haus steht.
Die Wirklichkeit der Kunst verkehrt sich auf diesem Wege zur Lüge über die Wirklichkeit, zum Betrug an ihr, zum Schein, wie das Märchen über „Des Kaisers neue Kleider“ in unübertroffener Weise erzählt.
Die Macht draußen und im Innern des Künstlers verlangt nicht viel von ihm: „nur“ mitmachen, nicht widersprechen, nicht stören, gute Miene zum unwahren Spiel, nur jene stille Feigheit, sich nicht unbeliebt zu machen, nur die banale Rolle des angenehmen und bequemen Zeitgenossen.
Statt Einsicht durch geduldige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, verlangt die Macht „nur“ den loyalen, d. h. den dem gerade Herrschenden zugetanen Kompromiß auszuhalten, auch gegen die bessere eigene Einsicht. Statt des aufrichtigen Bekenntnisses im Werk nach bestem Wissen und Gewissen, ein mit scheinheiligen Seufzern begleitetes Ausweichen auf die „Verhältnisse“, die von nun an die Wirklichkeit ersetzen.
Aus solcher zum persönlichen Gewissen schiefen Anpassung an die angstvoll befolgten opportunen Spielregeln der Macht kann keine Kunst erwachsen, die Wirklichkeit im Bewußtsein zur Anschauung zu bringen vermag.
Unmittelbar an diese äußerst aktuellen Überlegungen, die jeder von uns für sich auf die ihm gerade je vorliegende Situation beziehen kann, schließt sich die unvermeidliche Selbstaufforderung zu Verantwortung an, die jeder trägt, wenn er in irgendeiner Weise mit der Kunst befaßt ist. Im Vertrauen auf die andern kann man sich nicht aus der Verantwortung – natürlich auch nicht der künstlerischen – stehlen. Im eigenen Werk bekennt sich der Künstler, ob er will oder nicht, als ein Eigenständiger oder Angepaßter, als ein Tapferer oder Feiger, als ein Einsichtiger oder Uneinsichtiger, als Wahrheitssuchender oder als Scharlatan, er gibt sich zu erkennen als der, der eben gerade, selbst, in seiner Beziehung zum Ganzen ist.
In der Verantwortung vor der Freiheit der Kunst stehend ist nicht der Irrtum, die fehlerhafte Einsicht die irrige Tat sein Hindernis, wie er vielleicht gern einwenden möchte, um ihrem Anspruch zu entkommen, im Irrtum erlebt sich der Künstler wie jeder andere als ein Mit-in-die-Wirklichkeit-Gestellter, an dieser ungesichert handelnd Beteiligter. Aus dem Irrtum erfährt er überhaupt erst seine Verbundenheit, seine unverlierbare Teilhabe am Ganzen. Im Irrtum erkennt er sich als Mitmensch, als einer, der dazu gehört, weil er mitschuldig wird und weil er daran leidet. Doch erst, indem er bereit ist, seine Irrtümer erkennen zu wollen, gewinnt er die Freiheit, aufs neue zu handeln.
Verantwortung für die Freiheit der Kunst ist so betrachtet keine Bürde aus Furcht vor Irrtum oder Versagen, sondern eine Form der Teilhabe an der Wirklichkeit, die die Erfahrung der Würde und Größe des künstlerischen, wie auch jedes anderen schöpferischen Tuns offenbart. – Verantwortung sei hier nicht zu verwechseln mit der gern an ihre Stelle gesetzten Pflicht Die Verantwortung ist nur dem Wissen und dem Gewissen verpflichtet Das Wissen zielt nach außen, in die Erkennbarkeit von Wirklichkeit, das Gewissen richtet sich nach innen, in das Ethos der Person. Nur beide zusammen, Wissen und Gewissen erzeugen jene Handlungsfreiheit in der Bindung an das zu Beginn ausgeführte Interesse (inter-esse – dazwischensein) des Künstlers in Spannungsfeld zwischen Welt und subjektivem Erleben, zwischen der Objekt oder Dinghaftigkeit und dem personalen Ich. Die Verantwortung des Künstlers in Unabhängigkeit von der Macht ist quasi nur die, wenn auch unablösbare Rückseite jenes zu Beginn ausgeführten Verhältnisses zur Wirklichkeit, die den Künstler in die Möglichkeit setzt, Freiheit der Kunst zu üben.
Alles bisher Ausgeführte stellt eine letzte und schwierigste Frage nach dem Maß und Wert, nach der verbindlichen Wirklichkeit dieser wirklichkeitsbezogenen Kunst.
Ich bin bei meiner vorbereitenden Lektüre zu dieser Rede immer wieder sehr zutreffenden Antworten auf alle diese Fragen begegnet, die alle einen gemeinsamen Kern haben; vornehmlich fand ich Anregungen bei Camus, Solschenizyn, Konrad Fiedler und Heidegger, denen und vielen anderen (siehe Literaturverzeichnis) ich die Klärung und Stützung meiner eigenen Erfahrungen und Gedanken für diese Ansprache verdanke, so daß ich mich im Versuch, diese letzte Frage zu beantworten, auch weiter auf sie berufen werde.
Wenn es dem Künstler gelingt, und es gelingt ihm ja gar nicht so oft, wie man sich das gemeinhin vorstellt, alle vorgenannten Einstellungen und Haltungen in sich wie in einem Brennglas zu sammeln und aus eben diesem Befinden Wirklichkeit zur Anschauung zu bringen, wird in seinem Werk etwas sichtbar, ablesbar, was ich am dichtesten bei Heidegger in seiner Schrift „Der Ursprung des Kunstwerks“ in Sprache gefaßt vorgefunden habe:
„Die Kunst ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“. Dies ist gesagt in Bezug auf den hervorbringenden Künstler. Da Heidegger den Kunstbetrachter als den „die schaffende Bewahrung im Werk“ Vollziehenden in dieses Geschehen einbezieht, kann er an anderer Stelle fortfahren: „Das ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung und nichts anderes ist: eine ausgezeichnete Weise, wie Wahrheit seiend und d. h. geschichtlich wird.“
Ohne hier im geringsten dem dichten Denkgefüge Heideggers gerecht werden zu können, ist es mir wichtig, in aller Vorsicht von mir aus hinzuzufügen, daß durch Kunst, wenn sie wirklich Kunst ist, Wahrheit geschieht. Dieses ist also nicht die Behauptung oder der Besitz einer vorab gewußten und gesetzten Wahrheit, welcher der Künstler gleichsam wie mit einer Wünschelrute nachstellt, um sie dann im Werk aufzudecken, sondern das Ins-Werk-hinein-geschehen-lassen der Wahrheit im wagnisvollen und gleichzeitig bescheidenen Handeln des Künstlers. Dieses kann geschehen, wenn er Glück hat, oder anders ausgedrückt: Wahrheit setzt sich ins Werk, wenn der Künstler in der versammelten Offenheit seiner Person wirklichkeitsdurchlässig wird.
Ich will noch einmal aufgreifen, was ich über die Haltung des Künstlers zur Wirklichkeit, über seine innere Befaßtheit am Anfang beschrieben habe, weil es die Wege kennzeichnet, die in die Nähe der Ermöglichung solchen „Geschehens“ führen können:
Des Künstlers Schaffen ist erst dann richtig begonnen, wenn er nichts will, absichtslos sich hingibt an die Ganzheit der Wirklichkeit und nicht das Soziale bekämpft oder das Ideale in seinem künstlerischen Tun verteidigt, sondern in sich die Welt wiederklingen läßt, weil er eine Art Instrument ist, das, in Schwingung versetzt, Bilder über diese Welt erzeugt. Je reiner die Resonanz in dem Körper, in der Person (personare = erklingen), um so mehr – im Sinn von wahr – wird Kunst herausklingen.
So wäre Freiheit der Kunst das Losgelassensein von Zwecken und Vorhaben, wäre ein Geschehenlassen von Wahrnehmen und Antworten, in welchem der Künstler durchlässig ist für das Wirkliche, es aufnimmt und es vielleicht – wie gesagt, wenn er Glück hat – als Wahrheit im Werk abgibt.
Unsere Sorge um das Mißlingen, um das Versagen ist kleinmütig und zugleich hochmütig, obgleich ich sehr wohl um die Zählebigkeit dieser Sorge weiß. Erinnern wir uns der Verantwortung; sie besteht ja nicht darin zu siegen; das ist nicht unsere Sache, sondern darin, die Hoffnung – trotz des Versagens – nicht aufzugeben, daß wir Freiheit und Wahrheit durch Kunst in die Wirklichkeit immer wieder von neuem setzen wollen,
Solschenizyn sagt in seiner Nobelpreisrede: „Mut und Entschlußkraft stellen sich nur ein, wenn wir zu Opfern bereit sind«. Das ist eine hierzulande unpopuläre und auch wenig trainierte Einstellung. Was also müßte beispielsweise zum Opfer fallen, damit unser Mut sich entschließen kann, für die Freiheit der Kunst zu handeln: gewiß unser Unverhältnis zur Wirklichkeit oder unsere eitle und ängstliche Beziehung zur äußeren und inneren Macht, aber auch die falsche Ruhe der erfüllten Pflicht um der wichtigeren Verantwortung willen, oder unsere resignative Sorge um die Unerreichbarkeit der Wahrheit und vermutlich noch manches andere. Jedenfalls Mut brauchen wir wirklich am allernötigsten, weder Kleinmut noch Hochmut, sondern eben „nur“ Mut, uns in die Wirklichkeit hinein bejahend loszulassen, um sie wahrnehmend zu verstehen und zu ihrem wahren Ausdruck zu bringen in der Kunst.
Dann wird uns vielleicht auch jene Zivilcourage und Klugheit zuwachsen, derer wir bedürfen, um in anstehenden Entscheidungen für die wirkliche Freiheit der Kunst im kulturpolitischen Teil unserer Lebensrealität den ihr angemessenen Raum zu schaffen.
Venedig, im Juli und August 1976