Ludmilla von Arseniew – „Moderne Kunst was ist das?“

Diskussionsgrundlage für den 7.6. 1979, Franz-Hitze-Haus, Münster, Katholisch-Soziale-Akademie

Die Frage danach, was das ist, Moderne Kunst, ist bei näherer Betrachtung unglücklich gestellt. Sie verbirgt zwei andere Fragen, einmal die, was überhaupt Kunst sei, woran man Kunst als Kunst erkennt,

und

die andere, wie das fragende Ich wohl einen unmittelbaren Zugang zu unbekannten, ungewohnten Kunstwerken finden könnte.

Die Frage, wie sie im heutigen Thema gestellt wurde, suggeriert eine scheinbare Gewißheit darüber, was Kunst sei, und nur mit der modernen, da sei es fraglich.

1. Behauptung:

Es gibt keine „moderne“ Kunst.

Der Begriff des Modernen entstammt nicht der Geschichte der Kunst, sondern der Technik und der Mode. Der pragmatische Fortschrittsgedanke in der Vervollkommnung von technischen Geräten und Maschinen wird indessen gern auf Hervorbringungen des Geistes und der Kunst angewendet, auch von solchen, die sich Künstler nennen. Das wird deutlich im Sprachgebrauch, von einem Produkt zu reden statt von einem Werk, von einer Arbeit statt von einer Zeichnung. Das verrät eben nicht nur Bescheidenheit, sondern zeigt in der Sprache den Wandel der Auffassung. Es gibt aber diesen Fortschritt von technischer Vervollkommnung in der Kunst nicht.

Tizian ist nicht perfekter als Giotto und Cézanne ist es nicht mehr oder weniger als Tizian. Sie sind verschieden. Sie gehören ungleichen historischen Situationen an und zeigen verschiedene, sichtlich mögliche Anschauungen von Welt.

Wenn wir kulturpessimistisch unsere Gegenwart betrachten, sind wir geneigt, Vergangenheit, zumindest in ihren Kulturerzeugnissen, in vollkommenerem Licht zu sehen. Das liegt daran, daß die Kunst vergangener Zeiten unser Weltbild geformt hat, in dem wir uns nun zurechtfinden. Die wesentlichen Faktoren der gegenwärtigen Kunst kennen wir nicht, weil wir nicht voraussehen können, welche davon für die Zukunft wirksam werden. Wir haben Vorstellungen, Projektionen, doch sind diese ungewiß im Hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit in der Zukunft.

Kunst unter modischen Gesichtspunkten zu betrachten, als wechselnd, launisch, manipulierbar, machbar, erhellt die Kunst nicht in ihrem Wesen und bringt nichts für ihr Verständnis ein. Die Triebkräfte der Mode sind epigonal zum schöpferischen Bewußtsein, sie sind illustrativ für zeitgeistbestimmte Auffassungen. Es gibt zwar ästhetische Erzeugnisse, die unter solchem Blickwinkel hergestellt, propagiert und veräußert werden, doch dieser Umstand trägt nur zur Verwirrung und Unsicherheit in der Beurteilung bei.

Es gibt Kunst, und es gibt zeitgenössische Gegenwartskunst, d.h. Werke lebender, noch schaffender Künstler, deren Œuvre nicht abgeschlossen ist. Ob diese gerade „Mode“ sind, spielt für die Kunst an der Kunst keine Rolle, und an der Technik orientierter Fort- oder Rückschritt ist kein zutreffender Aspekt der Beurteilung.

2. Behauptung:

Es ist ganz in der Ordnung, daß wir zeitgenössische Kunst nicht ohne weiteres verstehen oder daß die Zugänge zu ihr beschwerlich sind.

Die eigentliche Frage mag also lauten: Wie finde ich Zugang zu einem Ding, das mir in vielen Aspekten unbekannt, ungewohnt, fremd und unzugänglich ist?

Um eine fremde Sprache zu erlernen, setzen wir viel Zeit, Methode, Lerneifer, Gedächtnis, Denken, Phantasie ein, um uns Grammatik, Wortschatz, Redewendungen, Aussprache usw. anzueignen. Um ein fremdes Land kennenzulernen, machen wir eine Reise, eine längere, lernen seine Sprache, seine Geschichte, seine Geographie, sprechen mit den Menschen, wohnen bei ihnen, begegnen täglich offenen Auges der fremden Kultur in ihren verschiedensten Äußerungen. Wir wundern uns über Fremdes, Ungewohntes und suchen es zu verstehen. Nach Hause zurückgekehrt wagen wir selten zu sagen, wir „kennen“ nun das Land. Wir haben nach längerer, intensiver Beschäftigung das deutliche Gefühl, daß wir erst sehr wenig davon wirklich kennen.

Wieviel Einsatz, wieviel Neugier, Mut, Kraft und Geld investieren wir, wenn wir etwas Unbekanntes ernsthaft kennenlernen wollen!

Noch ein anderen Beispiel: Um ein Fußballspiel zu begreifen, muß man die Spielregeln kennen, sonst ist das sehr grotesk, was sich für ein unwissendes Auge abspielt. Mit der Kenntnis der Spielregeln aber wird nicht nur der Sinn der Handlungen klar, sondern auch die Weise und Qualität des Spiels. Ein Urteil ist erst möglich, wenn der Betrachter die Spielregeln kennt, ein Werturteil aber erst dann, wenn er sehr viele und vor allem gute Spiele gesehen hat und miteinander vergleichen kann.

Sie merken, worauf die Beispiele hinauswollen:

In der Kunst, zumal in der noch nicht geläufigen, der neuen, ist es nicht anders als mit der Fremdsprache, als mit der Reise ins Ausland, als mit dem unbekannten Spiel.

Zum einen gibt es in jedem Werk der Kunst Spielregeln, deren Struktur nicht ohne weiteres durchschaubar ist. Man muß sie eben erst kennenlernen. Die Spielregeln wechseln mit dem Spiel. In der Entwicklung eines Künstlers wechseln sie oft mehrfach innerhalb seines Œuvres. Es wird also nützlich sein, nicht beim ersten Objekt kopfschüttelnd aufzugeben, sondern sich so viele Werke wie möglich von einem Künstler anzusehen, ehe man eine Meinung versucht.

Zum anderen bedarf es einer Reihe von Einstellungen und Haltungen, um das noch nicht Konvention Gewordene am Kunstwerk kennenzulernen, z. B.: Zuwendung, Offenheit, Neugier, Beobachtung, Ausdauer, Erlebnisbereitschaft, Geduld, Toleranz. Die Haltung des Betrachters sollte von der des hervorbringenden Künstlers in vielen Aspekten gar nicht unterschieden sein. Zum Erlebnis von Kunst bedarf es sogar eines schöpferischen Betrachters. Die Bereitschaft, offen für Unerwartetes zu sein, aufmerksam wahrzunehmen, steht am Anfang jeglicher Kunstbetrachtung. Neugier besagt, daß Lust auf Neues, noch nicht Gewußtes und Gesehenes nicht als Zumutung erlebt wird, sondern als Ansporn, als Freude zur Erweiterung der eigenen Sicht. Da sich eine komplexe Wirklichkeit erst allmählich und nicht auf einen Blick erschließt, werden detaillierte Beobachtung und Ausdauer nötig sein, um ein Werk in allen seinen Teilen und als Ganzes überhaupt erst einmal gesehen zu haben. Das dauert viel länger, als der durchschnittliche Betrachter meint. Erlebnisbereitschaft ist eine Voraussetzung, das Ungewohnte nicht nur zu registrieren, sondern sich rational und emotional zu eigen zu machen. Da das aber nicht immer dann möglich ist, wenn wir wollen, brauchen wir Geduld, damit sich Offenheit, inneres Schweigen, Konzentriertheit, Aufnahmefähigkeit, Sensibilität überhaupt einstellen können, ohne die wir nichts wirklich sehen und ohne die sich das Werk nicht vermitteln kann. Toleranz schließlich erlaubt dem Betrachter und den Dingen (!) selbst mit sich identisch zu sein. Der Tolerante stellt seinen Eigenwillen zurück und läßt Wirklichkeit auf sich wirken, ohne Ich-Einmischung, ohne Vorurteil. Der Tolerante ist gehorsam, er „hört“ statt selbst zu reden, d. h. er ist im Zustand des Aufnehmens, des Wahrnehmens.

Auf diesen Einstellungen basiert die Möglichkeit, einen Zugang zum Wahrnehmbaren der Kunstwerke zu finden, ob es sich nun um ein historisches oder zeitgenössisches handelt. Wenn wir das alles in uns realisiert haben, bleiben oft noch viele Aspekte an einem Werk unverständlich, und nicht nur am zeitgenössischen. Nur ein Beispiel:

Wenn Sie im Prado in Madrid von Tizian folgendes auf einem 1,36 x 2,20 cm großen Bild sehen: links im Vordergrund ein elegant gekleideter Herr an einer Orgel sitzend, dreht sich schräg über seinen Rücken ins Bild einer unbekleideten Dame zu, die auf einem, die ganze untere Bildhälfte einnehmenden, prächtigen Lager dem Betrachter zugewandt, ausgestreckt ruht und mit ihrer Linken einen winzigen Hund streichelt. Ein gebauschter Vorhang über ihrem Haupt gibt den Blick frei in eine grünende Parkanlage mit Springbrunnen, Pfau und Hirsch; – wenn also das an der zeitgenössischen Kunst geärgerte Auge nun noch die Farben, die Lichtsituationen, die räumliche Darstellung, die Malweise und weitere Details an Tizians Gemälde festgestellt hat, wird doch ungeklärt bleiben, wozu sich dieses ungleiche Paar im Bilde begegnet und was sie vorstellen. Verstehen wird es nur der, dem ikonographische Bildmittel und allegorischer Bildsinn die Zusammenhänge deutbar machen. Es ergibt sich aus solchem Vorwissen eine andere Wahrnehmung der Malerei und des Gemalten. Das Bild wird dann aus seinen formalen und farblichen Gegebenheiten lesbar und erlebbar als eine Ganzheit, die mehr ist als ihre analysierbaren Teile.

Der bruchstückhafte Zugang des Zeitgenossen erweist sich also auch an der „alten“ Kunst als unzureichend zum Verständnis. Selbst das, was er glaubt zu erkennen, kann er nicht in Wahrheit erleben, da er nicht weiß, wie er es wahrnehmen müßte.

Wir sehen nur, was wir wissen.

Es ist also nicht verwunderlich, wenn wir uns über Jahrhunderte von Kunstentwicklung keine vertiefte Kenntnis verschaffen, daß wir nur ästhetische Konvention gewordene Bruchstücke wahrnehmen, die sich für uns nicht zum sinnvollen Gebilde schließen. Was wir dann Kunst nennen, ist vielleicht doch ein Mißverständnis. Und das ist, wie wir an nur einem (1) Beispiel sahen, kein ausschließliches Problem der Gegenwartskunst.

Doch wieso erwarten wir ohne Vorbereitung, ohne personalen Einsatz, Kunst mühelos zu verstehen?

Hin und wieder geschieht es ja, daß wir wie von selbst von einem Bild angerührt sind, daß es uns unmittelbar einleuchtet. Das geschah immer, als Kunst aus magischen, aus mythischen Quellen hervorwuchs und der Mensch mit diesen ungeteilt verbunden war. Auf sie gerichtet schaute er im Werk die Gottheit. – In heutiger Sprache ausgedrückt heißt das, Sender und Empfänger müssen den gleichen Code haben, sonst kann diese unmittelbare Verständigung nicht stattfinden. Die Frage nach dem Was-Sein der modernen Kunst bezeugt die verlorene, zerbrochene, zerstörte Identität von Subjekt und Objekt.

Es steckt in der Frage: „Moderne Kunst was ist das?“ eine auf unzureichender Seherfahrung und mangelndem Kunstwissen bauender Optimismus, einen zureichenden Begriff von der alten Kunst zu besitzen. Im oft touristischen Vorbeimarsch an Kunstwerken der Museen findet viel Verwechslung und Ersatz statt: Stillung dekorativer Bedürfnisse, Registrierung von Berühmtheiten, Verblüffung vor der undurchschaubaren handwerklichen Fertigkeit, Genuß am Artistischen, Reiz des Sensationellen, Zerstreuung und Abwechslung. Der im Werk anschaulich gewordene Geist der Kunst bleibt dabei oft unberührt und unbemerkt.

So stellt sich schließlich die Frage, was denn dann Kunst überhaupt sei – und diese Frage wissen wir nicht zu beantworten, ebensowenig wie die Frage, was Gott oder was das Leben sei.

Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, dessen Wirkungen wir zwar erfahren und beschreiben können, dessen Sein in der Hervorbringung auch für den Künstler Geheimnis ist; deshalb bedürfen wir auch nicht der Antwort auf das, was Kunst sei.

Trotz dieses Nicht-wissen-könnens, was Kunst ist, begegnen wir immer wieder Wertungen und werten selbst. Und diese Wertungen erweisen sich als bedingt, also als nicht absolut: historisch bedingt, geschmacksgeprägt, zeitgeistabhängig, marktbeeinflußt, subjektiv, wechselnd, falsch, kurzsichtig usf.

Der Mensch wertet nur innerhalb einer vereinbarten Werteordnung, eines Gefüges, einer Hierarchie, also einer Skala von Werten, die aus seiner Weltanschauung wächst, in diese eingeordnet ist.

Wenn, wie wir seit etwa der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beobachten müssen, das Weltbild des abendländischen Menschen sich in immer mehr divergierende Entwürfe und Ideologien aufspaltet, kann es nicht ausbleiben, daß auch die Verbindlichkeiten der Auffassungen von Kunst sich in ebenso viele Wertgefüge zergliedern. Das macht es schwer bis unmöglich, eine verbindliche, für alle gleichermaßen gültige Werteordnung für die Kunst zu behaupten, Auch deshalb bedürfen wir in der Begegnung mit dem Unbekannten in der Kunst der Toleranz. Denn wir können nicht fordern, Kunst heute müsse so und nur so sein, dies oder das leisten. Alle Nützlichkeitsaspekte, alle Funktionszuweisungen sagen etwas über die Art des Umgangs mit der Kunst aus. Sie sind aber völlig unbrauchbar zu ihrer Hervorbringung.

Kunstwerke sind geschichtlicher Natur, wie alle unsere Hervorbringungen. Kein Werk steht außerhalb des Zusammenhangs seiner Zeit und vorangegangener Zeiten. Deshalb müssen wir auch die Geschichte der Spielregeln kennen. – Darum ist die oft vom Laien so kurz und knapp gestellte Frage vor einem ihm unverständlichen Objekt der Kunst, was denn das sei und bedeute, einfach nicht so schnell zu beantworten, weil die Antwort dann immer so umfassend ausholen muß, bis mit der versuchten Erklärung auch ein geistesgeschichtlicher Abriß etwa der Form-Inhalts-Problematik die Antwort verständlich macht.

Doch das ist nur der zweite Aspekt der Verständnisbedingungen; der erste aber und der wichtigste ist die zuvor beschriebene Einstellung des intensiven, konzentrierten Wahrnehmenwollens; ist das Er-leben, das vor so einer Frage beim Betrachter meist nicht stattgefunden hat, oder ungeduldig und vorurteilsblockiert abgebrochen wurde, der Frage nach dem Bedeutungs-Was des Werks aber unbedingt vorausgehen muß, wenn Kunst nicht nur zum Transportmittel gelehrter Bildungsbeflissenheit in ihrer Wirkung schrumpfen soll.

Diese intensive Wahrnehmung, diese erlebnishafte Aneignung ist die eigentliche Form der Kunstbegegnung.

Kunst ist ein geistiges Phänomen, das wir sinnlich auffassen. Deshalb müssen Geist und Sinne wach und offen aufnehmen und begegnen. Kunst bringt in ihren Werken Anschauung von Welt durch die geistig-sinnliche Wahrnehmung der Künstler hervor. Sie ist eine Erkenntnisform des menschlichen Geistes und somit Wandlungen unterworfen, denn keine unserer Erkenntnisse ist objektiv oder gar absolut. Objektiv nicht, weil wir alle Objekte nur als Wirkungen auf uns wahrnehmen, in Abhängigkeit von der Konstruktion unserer Wahr-nehmungsorgane, und absolut nicht, weil nie außerhalb der zusammenhängenden Bedingungen unserer Entwürfe.

Wenn Künstler ihre Wahrnehmungserlebnisse in den vorgefundenen Darstellungsformen nicht mehr angemessen, erlösend zum Ausdruck zu bringen vermögen, dann suchen sie nach neuen Formen. Das ist zunächst mal nichts so Besonderes. Denn jeder Mensch kennt in irgendeinem Bereich das Ungenügen, die Unzufriedenheit mit von ihm benutzten Weisen des Ausdrucks, wenn er z. B. übererfüllt von etwas Erlebtem ist und merkt, daß alles an ihm verfügbaren Ausdrucksweisen dieses, was in ihm so mächtig wirkt, nicht auszusagen vermag. Er ist erst erleichtert, zufrieden, wenn es ihm gelingt, seinen, das Erlebte fassenden Ausdruck zu finden. Dieses Bedürfnis der Erneuerung, das die Kunst realisiert, ist ein Bedürfnis nach Authentizität, nach Identität von Inhalt und Form, ein Bedürfnis „wahrer“ zu sein, als es in den bewährten Formen möglich ist. Das Neu-sagen, Neu-zeigen, Neu-sicht-barmachen in der Kunst birgt in sich die Hoffnung auf Leben, Leben, das sich auszeichnet durch Wandel, durch Bewegung.

Wir sagen er-leben und meinen Leben neu erfahren, weil wir uns so schnell gewöhnen, anpassen. Das heißt, die Frische einer Einsicht wirkt nur so lange bewegend in uns, setzt uns in Gang, solange sie nicht unser Besitz ist, solange sie nicht feste Konvention ist.

Der Mensch bedarf seiner Natur nach eines Maßes an Konvention, an Gewöhnung, an Feststehendem, um nicht vor den wechselnden Erscheinungen in Ängsten verlorenzugehen.

Und er bedarf der Erneuerung, damit seine Lebenskräfte nicht absterben. Er bedarf der Verwandlung, weil sonst die Vielfalt und der Sinn seiner Möglichkeiten ihm selbst abhanden kommen. Die Kunst und der Künstler antworten auf dieses Bedürfnis der Erneuerung, der Verwandlung.

Wandlung ist ihr Material, ist ein Teil ihres Vermögens und ein Maßstab für ihre Qualität.

Die Erneuerung in der Kunst betrifft Technik, Form, Inhalt, Bedeutung, alle Teile zusammen oder je einzeln, je nach Notwendigkeit. Der Wandel muß als von innen Notwendig erfahren werden, ehe er wirklich geschehen kann. Notwendig heißt, es muß ein Mangel, ein Leiden, eine Not vorausgehen, die gewendet werden will.

Formenwandel allerdings, der ohne dieses innerste Bedürfnis, zu oft, zu schnell, willkürlich probiert wird, reduziert sich zum Reiz und erzeugt Frustration, weil nicht der erhoffte Wandel, sondern nur Variation, also etwas Quantitatives stattfindet.

Wandel aber ist die Neuerschaffung von Qualität, das Hervorbringen von Eigenschaften, die bis dahin nicht im Blick, nicht in der Wirklichkeit waren. Daß zum Erleben dieser Erneuerung im Kunstwerk eine ihr ähnliche Intensität, Bereitschaft, Aufmerksamkeit, Konzentration gehört, dürfte nun nicht mehr als Überforderung empfunden werden.

Bleibt noch eine Vermutung zu behandeln, daß es im Kern der Frage nach dem Was der „modernen“ Kunst vielleicht um den Gegenstand ihrer Darstellung geht, um die Gegenständlichkeit nämlich, deren zeitweiliges Verschwinden manchen Betrachter enttäuscht.

Es wird immer noch vielfältig angenommen, daß es stets „Aufgabe“ der Kunst, der Künstler war, optische Realität auf der Fläche seiner Darstellung abzubilden, – Wir sehen aber auf keinem Bild primär Inhalte, d. h. eindeutige Bedeutungen, sondern zunächst einmal Formen und Zeichen. Und unser Gehirn deutet sie als Gleichnis für dies oder das. Wir erlernen als Kinder das herrschende Repertoire an Zeichen und ihre Bedeutung. Aber am Spiel von Kindern beobachten wir auch die grundlegende menschliche Fähigkeit, einem Zeichen, einem Ding beliebige Bedeutung zuzuordnen. Für das Kind sind Zeichen und Dinge Material, das im spielenden Umgang wechselnde Deutung erfährt, wodurch es lernt, sich Wirklichkeit und eben nicht die Dinge selbst anzueignen. Erwachsene, die längst dieses Vermögen als irritierend abgelegt haben, verbessern denn auch das Kind, indem sie sagen, daß eben jenes Ding nur ein Holzlöffel sei und nicht, wie das Kind sagt, eine Puppe oder ein Hund. Was die schöpferische Potenz angeht, hat jedoch das Kind recht.

Aus Vexierbildern und optischen Täuschungen z. B. wissen wir, daß Zeichen mehr- oder vieldeutig sein können, daß Formen nicht ein für alle Male nur das und nichts anderes bedeuten. Zudem sind alle Zeichen geschaffen und nicht außerhalb des Menschen vorgefunden. Was wir als diesen oder jenen Gegenstand wiedererkennen auf einem Bild, ist das Ergebnis einer Konvention gewordenen Zeichenfolge, die wir gelernt haben als diesen bestimmten Inhalt zu lesen. Zur Orientierung in der Welt der Erscheinungen ist solches eindeutiges Interpretieren nützlich und notwendig, und je komplexer und komplizierter die Beziehungen der Wirklichkeitsaspekte werden, um so mehr.

Doch der Künstler benutzt die Mehrdeutigkeit der Zeichen, die er vorfindet oder schafft, um sich und seine Erlebnisse verschiedenster Art authentisch und neu auszudrücken. Der Künstler kann auswählen und spielend ändern, was und wie er will. Er kann Zeichen verwenden, die tradiert sind, er kann solche verwenden, die als inhaltlich interpretierbare gelesen werden können, er kann Zeichenumstände schaffen, die eindeutig oder zweideutig sind oder mehrdeutig bleiben und den Betrachter so veranlassen, sich in ihre Komplexität einzusehen. Er kann Zeichen erfinden, die keine etwas darstellenden oder bestimmte inhaltliche Assoziationen ermöglichen. – Kasimir Malewitsch z. B. beeinträchtigte die pragmatische Bindung der Farbe und Formen an eine Darstellungsfunktion, wie sie ihm die europäische Malerei zeigte, in seinen Vorstellungen von der reinen Malerei. Er sah die Kunst gleich der sich hervorbringenden Natur, die nichts nach irgendwelchen ästhetischen Prinzipien nachbildet oder aus zweckdienlichen Interessen formt. In diesem Sinn der sich-nicht-Gegenstand-seienden Natur wollte er die reine, das heißt gegenstandsfreie Kunst verwirklichen. Er entwarf eine Utopie, in der der nicht wertende Gehorsam gegenüber dem Sein, die wirkende aber nicht wertende Liebe, der Zustand des reinen Glaubens die reine Kunst hervorbringt. Das schwarze Quadrat auf weißem Grund war eine Gestalt dieses Denkens. Dieses Beispiel zeigt einen Grund für die Gegenstandslosigkeit, nämlich die erstrebte Zweckfreiheit der Kunst.

Der Künstler handelt aus Gründen und Anlässen, mit Vorstellungen und mit Zielen, im Zustand der Konzentration oder der Kontemplation, der Beobachtung oder des Träumens. Sehr viele verschiedene verursachende Antriebe kann es geben. Ob einer davon zur „hohen“ Kunst, zu der Art von Gebilden führen wird, die noch Jahrhunderte später unseren Geist bewegen und in denen wir unsere Welt erkennen, kann niemand im Augenblick ihres Ent-stehens sagen, auch der Künstler nicht. Er kann überzeugt sein, aber nicht vorwissen.

Er muß überzeugt sein, sonst kann er nichts tun. – Ich zitiere mich selbst: „Des Künstlers Schaffen ist erst dann richtig begonnen, wenn er nichts will, absichtslos sich hingibt an die Ganzheit der Wirklichkeit… in sich die Welt wiederklingen läßt, weil er eine Art Instrument ist, das, in Schwingung versetzt, Bilder über diese Welt erzeugt. Je reiner die Resonanz im Körper, in der Person, … um so mehr – im Sinne von wahr – wird Kunst herausklingen.“ (Die Freiheit der Kunst, Münster 1976)

Kunst macht Welt sichtbar, offenbart Welt, sie verwandelt Wirklichkeit und verklärt sie, sie schafft Welt als Wirklichkeit. Deshalb kann bloße Reproduktion, nur optische Abbildung nicht ihre Bestimmung sein und ist es auch nie gewesen.

Der Kunstbegriff hat sich in der Geschichte der Menschheit vielfach gewandelt. Es gab ihn als Begriff weder immer noch überall. Und doch begegnet uns das Phänomen bereits in den prähistorischen Höhlenmalereien. Auch die Abgrenzung zwischen Kunst und Kult ist schwer zu ziehen. Das wird z. B. deutlich am Verständnis und der Funktion der Ikone.

Wir werden je nach Weltanschauung unsere Anschauung von Welt – und umgekehrt – bilden und danach versuchen zu sagen, was Kunst sei und was nicht. Eine Methode, Wirklichkeit und Welt hervorzubringen, ist das Spiel.

Im Spiel schafft der Mensch seine eigene Welt. Im Spiel erzeugt er neue Wirklichkeit. Im Spiel sieht er die Dinge in neuen Zusammenhängen, im Spiel ordnet er den Dingen neuen Sinn zu. Im Spiel wächst er über seine Kräfte hinaus, im Spiel verwandelt er sich selbst. – Das Spiel hat keinen Zweck und Nutzen zum Ziel, aber es hat selbstgegebene Regeln, nach denen es Gestalt wird.

Daß Spiel als Unterhaltung bezeichnet wird im unbedachten Sprachgebrauch, zeigt bei näherem Bedenken der Wortbedeutung „Unterhalten“, daß es sich um eine existentielle Dimension handelt, welche im Begriff Lebensunterhalt etwa, aufdeckt, daß Unterhaltung das Gegenteil von Zerstreuung ist; nämlich etwas zur Dauer des Menschenlebens Gehöriges, etwas die Existenz in sich Sammelndes, etwas das Leben Tragendes und Erneuerndes, etwas, das offenbar im Gegensatz zur Arbeit steht, die eine anscheinend unumgängliche, aber nicht Leben verwirklichende Weise menschlicher Existenz ist.

Aus solcher Überlegung wird Spiel zur ureigensten Art und Weise des künstlerischen, des schöpferischen Verhaltens, in welcher Welt in ihrem Wesen angeeignet und aussaugbar wird. Die Freiheit des Menschen, seine Würde, seine Bestimmung gar realisiert er im Spiel und nicht in der Arbeit. Auch wenn es nicht im Bewußtsein ist, vieles, vielleicht das meiste unserer sozialen, kulturellen und religiösen Handlungen hat Spielstruktur als Ursprung.

Die Vorstellung z. B., sich durch Kunst zu verewigen, mag daher rühren, daß der Mensch im Spiel, in der Kunst sein Wesen erfährt, den Vorschein seiner Vollkommenheit.

Aber es gibt natürlich schlechte Spieler, schwache Spieler, Spielverderber, Falschspieler, Zweckspieler. Sie schmälern, verdrehen oder zerstören die schöpferische Kraft und die Qualität des Spiels. Die Ziel- und Zweckfreiheit des Spiels als seiner Wesensbestimmung ist die gleiche in der Kunst.

Alle Nützlichkeitsaspekte, die sich aus Gebrauch und falschem Gebrauch der Kunst ergeben, engen den Spielcharakter ein und behindern die wirkende Kraft der Kunst. In der Kunst der Gegenwart ist der Spielcharakter vorherrschend. Woran das liegt zu ergründen, führt in ein weiteres, für heute abend zu weites Feld.

Ich versuche, die Hauptgedanken stichwortartig zusammenzufassen:

Es gibt keine „moderne“ Kunst.

Es ist ganz folgerichtig, daß Gegenwartskunst schwer zugänglich ist.

Erlebnisbereitschaft, Offenheit, Geduld und Toleranz sind Voraussetzungen von Kunsterfahrung.

Jedes Werk hat Spielregeln, die der Betrachter kennenlernen muß.

Der Betrachter sieht nur, was er weiß.

Unmittelbare Kunsterfahrung setzt Identität von Subjekt und Objekt voraus.

Um Kunst zu begegnen, brauchen wir nicht zu wissen, was sie ist.

Intensive Wahrnehmung, erlebnishafte Aneignung ist die eigentliche Form der Kunstbegegnung.

Wir werten innerhalb vereinbarter Wertordnungen, die aus unserer Weltanschauung wachsen.

Kunst prägt unsere Weltanschauung, sie bringt Anschauung von Welt hervor.

In der Kunst wird Anschauung von Welt immer dann neu gesagt, wenn konventionelle Formen das Gemeinte nicht mehr zum Ausdruck bringen können oder konventionelle Inhalte nicht mehr die Fülle der Erfahrungen fassen.

Kunst verwirklicht not-wendigen Wandel.

Kunst bewährt Leben als Verwandlung, als Erneuerung.

Der Gegenstand der Kunst ist die Wahrheit, nicht aber die Blumenvase, also nicht ein Ding der Realität.

Zeichen sind vieldeutig, und sie sind nicht die bezeichnete Realität.

In der Kunst bestimmt der Künstler das Maß der Mehrdeutigkeit seines Zeichengefüges.

Es erweist sich mit der Zeit als Kunst, was unsere Welt zur Wirklichkeit und unsere Wirklichkeit zur Welt dauerhaft gewandelt hat.

Eine Methode, Wirklichkeit und Welt hervorzubringen, ist das Spiel.

Spiel hat existentielle Dimension.

Spiel erzeugt Freiheit.

Spiel ist die ureigenste Art künstlerischen Verhaltens.

Spiel hat wie die Kunst keinen Zweck und kein Ziel.

Literatur:

Günter Grote, Die Grundlagen der Kunst, Vorlesung an der Kunstakademie Düsseldorf, 1974 zu Spiel: Dr. A. Backhaus, Gedankensammlung zur Kunst, Hamburg, 1960