Dr. Adolf Smitmanns
Tübingen


„ICH MALE, WAS MICH BEWEGT“

Die Stiftung Ludmilla von Arseniew
Markgräfler Museum in Müllheim/Baden

KUNST HEISST BEGEGNUNG

In der Kunst ereignen sich wesentliche Wahrnehmungen und Erfahrungen menschlichen Daseins. Nicht nur wird etwas als ein Objekt unserer Erkenntnis sichtbar. Es entsteht auch ein Gegenüber. Mit dem Problem der Gegenständlichkeit in der bildenden Kunst hat dieses Gegenüber wenig zu tun. Wirklichkeit ist nicht auf dinglich Vorhandenes beschränkt. Sie öffnet sich vielmehr in jeglicher Form. Insofern Kreativität neue Formen findet, wird die Wirklichkeit neu. Das Ereignis der Form gibt es nicht als Abbildung oder Kopie. Es ist wie bei der Neuheit eines jeden Tages. Jedwede Wahrnehmung, die zu einer Form führt, voll-zieht den Lebensprozess der Welt und die Liebe als dessen innersten Prozessor. Die sich in der Kunst ereignende Begegnung realisiert zugleich die Verwandlung des Selbst wie der Welt.

Die Frage, welche Rolle vorhandene Gegenständlichkeit für die Bildfindung eines Künstlers (einer Künstlerin) spielt, ist nicht ohne Sinn, aber in jedem Fall eine nachgeordnete. Denn der Dialog, um den es in der Kunst geht, ist kein solcher des Sammelns, sondern ein solcher der Begegnung und der Wandlung. Diese aber sind nicht etwas, das man tun oder lassen kann, sondern notwendige Wege unserer Existenz. Und diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Werk – sie steht nicht neben ihm.

Wer immer Kunst schafft, aber auch diejenigen, die Kunst als solche ansehen und benennen, haben in der Regel schon andere Kunst gesehen. Ein Objekt »Kunst« zu nennen, stellt es in den Zusammenhang früherer Kunst-Erfahrungen, wie groß der Unterschied zwischen der früher gesehenen, vielleicht auch geschaffenen Kunst und der neu wahrgenommenen auch sein mag. Das heißt, die Wahrnehmung von Kunst ist ein Prozess, für den sowohl der Künstler/die Künstlerin, die dem Werk begegnenden Betrachter, wie auch beider Erfahrung mit der Geschichte der Kunst von Bedeutung sind. Für Ludmilla von Arseniew war dieser Prozess, durch die Geschichte ihrer Jugend geprägt, von besonderem Charakter: 1939 als Kind russischer Eltern in Litauen geboren, 1941 nach Leipzig umgesiedelt, wo der Vater starb, 1949 mit der Mutter aus der sowjetischen Besatzungszone geflohen, schließlich in dem kleinen Dorf Elmpt an der niederländischen Grenze bei Mönchengladbach angesiedelt – Einzelkind einer ganztägig arbeitenden Mutter. »Ich war Fahrschülerin und von Mönchengladbach und seinen Angeboten weitgehend getrennt …. 1959, zum Abitur, kannte ich keinen Film, kein Museum, keine deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Mein erster Kunstunterricht begann in Obersekunda mit Diaprojektionen. Da lernte ich erstmals van Gogh und Chagall kennen. Als ich 1958, von der jungen Kunstlehrerin ermutigt, mit eigenem Zeichnen und Malen begann, wusste ich nichts von der Kunst irgendeines Jahrhunderts.«

Gerade aus dem Alleinsein des Einzelkindes entsprang jedoch Schöpferisches. Eine einzige Aufführung von Humperdincks »Hänsel und Gretel« führte zum Verlangen nach Ausdruck und zu seiner Einübung in einsamen Tänzen. »So habe ich täglich mir meine Tanzwelt er-schaffen und das Jahre lang. Diese biographische Tatsache ist ein Schlüssel zum Verständnis des Schöpferischen geworden, zu Ausdruck, Bewegung, Selbstbegeisterung. Viel eigenständige Kraft habe ich als Kind in dieser unbeaufsichtigten Einsamkeit entwickelt.«
So führte zur Malerei nicht Wissen, sondern Wille und Liebe zur schöpferischen Form.

Als die junge Frau dann 1960 an der Kunstakademie Düsseldorf das Studium der Malerei begann, fand sie dort eine Situation vor, die für sie geradezu schicksalhaft glücklich war. Ein umfassender Professorenwechsel hatte die »Alte Akademie« mit ihren Regeln, Modellen und Vorbildern, durch die Kunstdoktrin des Nationalsozialismus noch einmal zur Herrschaft gelangt, gerade abgelöst. Eine neue Generation von Lehrern (Goller, Götz, Hoehme, Bobek und Grote, bei dem von Arseniew arbeitete) war dem Geist und nicht einem Regelwerk verpflichtet. Diese Freiheit gab es in Europa nirgends sonst. »Mein Glück, dass ich keiner Kunstdressur unterworfen wurde. Ich wäre nie Malerin geworden, wenn man mir Vorschriften gemacht hätte … wir waren damals wirklich unabhängig und spürten die Würde unserer Freiheit«.

Das Glück, die Kunst in dieser Würde der Freiheit zu erfahren, hatte Konsequenzen. In der 2. Hälfte der 60er Jahre ist die Düsseldorfer Akademie zum führenden Ort der Auseinandersetzung um neue Formen, Werte und Aufgaben der Kunst geworden. Sie waren nicht auf Person und Werk von Josef Beuys beschränkt, kulminierten aber im Streit darüber. Ludmilla von Arseniew sah insbesondere Politisierung, auch neue Ansätze von Führertum. Die unabhängige Position, die sie dem gegenüber einnahm, ist in der Selbständigkeit ihres Werkes erkennbar und insofern diesem auch zuzuordnen. Sie gehört zur Qualität ihrer Arbeit und charakterisiert sie umfassend. 1971 wurde Ludmilla von Arseniew als Professorin für Malerei an die Abteilung für Kunsterzieher der Kunstakademie Düsseldorf in Münster berufen.

BEOBACHTUNGEN ZUR ENTWICKLUNG

1975-1979

Die Auswahl der Stiftung für das Markgräfler Museum Müllheim umfasst nur wesentliche und das Gesamtwerk kennzeichnende Gemälde. Sie lässt dessen Entwicklung erkennen und hilft zum Dialog mit dem Bild. Die späten 60er und die 70er Jahre haben im Werk Ludmilla von Arseniews die thematische Bedeutung der Landschaft für ihre Bildfindung gebracht. Der genauere Sachverhalt hierzu ist allerdings nicht leicht zu vermitteln. Die Landschaft ist kein Vorbild, das im Gemälde abgebildet würde. Kein Bild dieser Werkphase von Arseniews ist als Abbildung vor der Natur entstanden. Die Künstlerin selbst berichtet eine Art »Eröffnungserlebnis«: die nur Sekunden dauernde Wahrnehmung einer Landschaftsform aus dem fahrenden Auto, die erinnernde Skizze dazu und deren Verwandlung zum Konzept für ein völlig freies Bild. Als Voraussetzung dieser Freiheit erkannte sie den Verzicht auf die menschliche Figur. Vielmehr sind Landschaftslinien und Wolken als freie Farbplatzierung gleichsam die »Figuren« einer solchen Malerei und ermöglichen nahezu jeden Ausdruck. Der Vorrang, den dabei die Ebene hat, mag einer tiefen, vielleicht gar vorgeburtlichen Erinnerung an die russische Herkunft zu danken sein. Figürliche Erinnerung und abstrahierende Freiheit konkurrieren also nicht, sondern verbinden sich über die Farbe zur Ganzheit der Bildform – wenn man will: zur Erscheinung des Seins. Und das bleibt auch so im Werk der späten 70er Jahre. Auch als Naturformen – wie Erde, Wolken, Wasser, Pflanzen – stärkere Konturen annehmen, sind sie nicht das das Bild begründende Motiv, sondern gewinnen ihre Bedeutung als Träger der Form.

Das Gemälde »Weidenrot«, 1975, verwirklicht diese Wandlung vollkommen. Zwar bleibt die Waagerechte ein wesentliches Formelement, aber sie ist mit Naturformen verbunden (vgl. zugehörig: »Nicht Winter, nicht Frühling«, 1976; »Dunkler Frühling«, 1977). Die Konturen der Farbfelder lockern die Geometrie, und der Farbauftrag deutet sowohl die aufwärts strebenden Formen des Wachstums an wie die des abwärts strahlenden Lichts. Diese doppelte Vertikale vollendet sich in »Weidenrot« programmatisch. Vergleichbare Begegnungen der Farbführung finden sich in nahezu allen Gemälden dieser Jahre, wenngleich nicht selten mit einer mehr oder weniger freien Horizontalen im Dialog (vgl. die Wasserbilder »Stein-hartes Meer«, 1978, und »Jitjejskoje morje«, 1979). Mit diesen Gemälden der Jahre 1975-79 verfügt das Markgräfler Museum über eine das Gesamtwerk weiter entwickelnde Werkgruppe, in der Alternativen wie Gegenstand und Abstraktion hinter der Ganzheit der einen Bildform zurücktreten.

1980-1989/90

Die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts sind ein hinsichtlich Politik, Gesellschaft und Kultur in Westeuropa höchst umstrittener Zeitraum. Auf den ersten Blick wird davon in der Malerei von Arseniews nichts sichtbar, weder in positiver noch in negativer Interpretation. Man könnte geradezu denken, die Künstlerin sei nach Italien ausgewandert. Alle Bilder dieser Jahre in der Müllheimer Stiftung haben Italien zum Thema (»Vor Tintorettos Haus«, 1980; »Nacht/Nebel«, 1984; »Standort (Morgen)«, 1986; »Römischer Spiegel«, 1986; »Heiliger Hain«, 1988; »Königskerze (verbasco)«, 1989; »Ospedale adriano II«, 1989/90). Vielleicht fällt zuerst auf, dass die Bildgegenstände dem Betrachter näher gerückt sind. Diese Nähe macht sichtbar, wie sehr Verschiedenheit und dennoch auch Zusammengehörigkeit von Natur und Kultur Themen dieser Malerei sind und schließlich wiederum zu einer Ganzheit führen.

Fast kein Bild, das nicht beide Aspekte vereinte. Mit den gewachsenen Formen der Natur verbinden sich solche der menschlich geformten Kultur. Es entsteht, was eine Ausstellung 1990/91 in der Galerie Albstadt und im Kunstverein Moers »Orte« genannt hat. Ein »Ort« entsteht in der Natur durch eine Menschengeschichte. Das Bekenntnis zur Begegnung der von Menschen geschaffenen Formen mit denjenigen der Natur erweitert für die Malerin die Möglichkeit der Formfindung, nicht aber deren Wesen. Aus den Bildern wird weder Topographie noch Historiographie. Vielmehr bewegen sie uns als Vergegenwärtigung von auf menschliche Existenz bezogenen Erfahrungen. Diese sind es, welche die Kunst in ihrem Tiefengehalt zur Anschauung und zur Wirkung bringt. Das ist der Grund, warum in diesem Jahrzehnt die Details und deren gegenseitigen Bezüge reicher gemischt sind als zuvor und danach. Natur: Licht, Wasser, Pflanzen – Kultur: Straßenzug und Boote, Götterbild und Hain, Blühendes im Licht und zugleich geradezu bewahrt durch die umgebende Mauer. Voller Bezüge zeigt sich von Licht und Wasser umhegtes Leben.

In einem Brief Ludmilla von Arseniews an mich im August 1990 wird ganz deutlich, wie wesentlich diese Erweiterung der Bildform ihr eigenes Verständnis ihrer Malerei ausdrückt. Und auch, dass ihre Kunst so unpolitisch gar nicht ist, nimmt man »Polis« nur weit genug. Die Rede ist dort von den Parallelen zwischen dem Bildorganismus und der wiedererkennbaren Welt der Dinge: »Ich bin sicher, dass nicht eine wie auch immer geartete Übersetzung diese Identität erzeugt, sondern nur ein Geist, der ähnlich wie Picard den Dingen ein Wesen zuschreibt, eine Beseeltheit, so dass sie nicht unterrangig sind, sondern ich ihnen begegnen kann wie Menschen, wenn auch die Kommunikation nicht verbal ist. Der liebende Umgang mit den Dingen entfernt eine Abstraktion und legt Einfühlung nahe … Es mag die alte östliche Herkunft sein, die mir die Welt der Dinge transparent macht für das vera Ikon, das mir ja auch ein sehr wichtiger Typus ist …“ (Ludmilla von Arseniew: Orte, Kat. Albstadt 1990, S. 11). Der Welt auf Augenhöhe zu begegnen, sie »nicht unterrangig« zu sehen – ein politisches Programm durchaus. Die Bilder dieser Jahre sind Medien für einfühlende Begegnung.

90er Jahre

Der Zahl nach sind die Bilder der 90er Jahre in der Müllheimer Stiftung am besten vertreten. Die Zusammenführung von Natur und Kultur hatte der Bildfindung weitere Möglichkeiten eröffnet. Dabei kommt es praktisch nie zu Wiederholungen. Vielmehr entsteht gerade anfangs der 90er Jahre Malerei von ausdrücklicher Individualität, darunter Bilder, die man nie vergisst. Man kann Lebensgeschichten ausgedrückt finden, Bilder weisen auf Existenz-erfahrungen hin (»wandert«, 1992; »Nach allem und für alle«, 1992; »Exhumiert«, 1993). Überraschend die Beweglickeit der Farben, ihr Miteinander in der Verschiedenheit. Farbe steigert Farbe oder bricht durch ein konträrfarbiges Netz nach vorne aus. Hier vor allem mag man an Cézanne denken, dem aus der Farbe die Realität der Welt entsteht. Bei von Arseniew ermöglicht Farbe parallel dazu die eigene Formfindung.

Eine andere bedeutende Bildfolge der 90er Jahre entsteht aus dem Dialog mit der oberrheinischen Weinbau-Landschaft und gibt der Beachtung und Bewahrung des Werkes Ludmilla von Arseniews gerade in dieser Landschaft eine besondere Legitimität. In der Geschichte der Beziehungen zwischen Mensch und Natur spielt ja der Wein eine besondere Rolle, ist ein Beispiel, das im Kult sogar das Transzendente berührt. Dabei erscheint die Zeichenhaftigkeit real existierender Dinge auf ein »Jenseits« besonders gewiss. Der Wein steht nicht nur am Anfang der Berichte über Wunder Jesu (Joh 2, 1-11), sondern er ist auch bei der Ankündigung seines Todes Zeichen der verheißenen himmlischen Gemeinschaft (Mt 26,29). Hierzu sind freilich Missverständnisse möglich: Ludmilla von Arseniew hat außerhalb der Tradition der Ikonen keine Kirchenbilder gemalt – die Welt als Welt ist ihr Verheißungszeichen. Am Beispiel von Weinberg, Weinstock, Traube und Wein wird dieser Zusammenhang überaus deutlich. Und wer es so sehen kann, ist wahrscheinlich von ihren Bildfindungen am tiefsten betroffen.

VOM EREIGNIS ZUR FARBE

Wenngleich Ludmilla von Arseniew auch eine hervorragende Zeichnerin ist, ist ihr wesentliches Ausdrucksmittel die Farbe. Diese Entwicklung machen die Bilder der Stiftung eindrücklich sichtbar. Bei den Gemälden der 70er Jahre füllen nahezu einfarbige Flächen eine sorgfältig austarierte Komposition. Die dabei entstehende Einheit, die man ebenso formbe-zogen wie thematisch komponiert erleben kann, wirkt monumental. Für die Weiterentwicklung des Stils um die Wende von den 80er zu den 90er Jahren ist dagegen die Vermehrung der Farben in einem Bild charakteristisch. Sie hat auch für Komposition und Farbwahl Bedeutung. Zugleich und unabhängig von dieser Kontinuität können aber Farben als selbständige Formen die Ganzheit des Bildes dynamisieren. Das sah man in der Frühphase des Werkes so nicht. Es ist das beredteste Sprechen mit der Farbe, das es bei Ludmilla von Arseniew gibt. So wird zum Beispiel »Exhumiert«, 1993, ein »Schlüsselbild«, den Rang und die Reichweite der Farbe zu erkennen: Ein Lager ausgegrabener verdorrter Weinstöcke wirkt in den Einzelformen vom Reichtum der Spektralfarben wie durchleuchtet und bringt so Tod und Leben in einen unauflösbaren Zusammenhang. Daneben erneuern sich im jüngeren Werk, meistens im Zusammenhang mit dem Thema »Wasser«, jene beinahe einfarbigen großflächigen Bildformen, die es auch früher schon gab. Anders als in der Farbe vermögen die Kräfte des Seins bei von Arseniew offenbar nicht sichtbar zu werden. Und eine Farbwahl, die sich gänzlich von der sichtbaren Welt löst, scheint es ebenso wenig zu geben wie eine solche, die diese nur nachahmt.

Während der Jahre des Malens und Lehrens sind die Ausdrucksmöglichkeiten von Arseniews zumal in der Farbe immer reicher geworden. Dennoch wirkt ihre Kunst nie laut oder plakativ, sondern ist der erfahrenen Wirklichkeit verpflichtet. Und obgleich selbstbewusst, hat die Künstlerin einen extravaganten Platz in der Kunstszene nie gesucht. Ihr Gegenüber ist die Welt, die sie bewegt: Erde, Steine, Wasser, Pflanzen, Spuren und Gestaltungen des Menschen – ihre Formen und Farben sind faszinierende Wegweiser zum Sein. Ist Ludmilla von Arseniew biographisch auch vielleicht heimatlos, so sind die Bilder der Ort, an dem ihr die Wirklichkeit sichtbar wird. Und diese Wirklichkeit ist überaus mannigfaltig und reich. Bilder, welche eine Einheit der Bewegung und eine Nähe der gewählten Farben charakterisiert, hat es schon seit den 70er Jahren gegeben. In ihnen ist oft die Mitte betont: das Leuchten eines Lichts auf dem Wasser, oder des Wassers bewegende Kraft aus einer Mitte heraus. Daneben aber zeigen Bilder der Natur, der Pflanzen vor allem, auch der Steine, Varianten der Form und der Farbe ganz dicht beieinander, auch übereinander, wie verwoben. Von Arseniew stellt ihre Kunst sehr bewusst in den Dienst, in dieser Vielheit eine Ganzheit des Seins zu erkennen. Ist man mit ihrer Malerei über viele Jahre vertraut, ist es vielleicht am erstaunlichsten, dass sie dieser ihrer Aufgabe anscheinend nie müde geworden ist: die Welt, sie preisend, sichtbar zu machen. Dazu ist dann vielleicht ein zweites Mal Cézanne zu nennen. Es war sein Glück, in den Formen der Bildfindung die Qualität des Seins erscheinen zu lassen und zu feiern. Das bedeutet keine Verzweckung von Kunst. Es war ihm tatsächlich der Grund ihres Daseins. Im Übrigen ist die Antwort der Künstlerin wie der Betrachter auf das im Bild Begegnende völlig frei. Von Arseniew hat ihre Vision einer Ganzheit sehr glücklich formuliert: »Keine oder wenn nur wenig Gegenüberstellungen im Bild, und wenn dann als Grenze, als Naht zwischen dem einen und dem anderen. Ideal ist das eine, das alles andere in sich enthält« (Ludmilla von Arseniew: Arbeiten von 1958 bis 1980, Düsseldorf 1980, S. 47). Welch kühner Wille zur Einigung und welche Kreativität des Ausdrucks: die Grenze als Naht!! Oder wie Heinrich Theissing formuliert: »…ein Kunstwollen, das in jeder Hinsicht zur Synthese strebt, zu einer Vereinigung von Ordnung und Freiheit, von Rationalität und Irrationalität, von Endlichkeit und Unendlichkeit« (ebenda S. 33).

Auf der Wirklichkeit dessen zu bestehen, »was mich bewegt«, heißt nicht, darüber als Objekt verfügen zu können. »Ich weiß nicht, was mich erwartet – wenn ich suche, finde ich nichts« (vgl. Kat. Albstadt S. 8). Das im Bild Erscheinende ist nicht aufsuchbar. Aber es bezeugt die Begegnung als ein Ereignis. Gerade so wird das Bild zur Antwort, als Versuch, das Bewegende anwesend zu machen, als Erscheinung zu bannen. Das gelingt insbesondere durch die Farbe, die nicht ein »Ding« bezeugt, sondern dieses Ereignis, indem sie zu einem sich gleichsam selbst übersteigenden Medium wird. Die Erscheinung des Bewegenden im Bild ermöglicht diese in der künstlerischen Individualität vermittelte Ganzheit. Ganzheit heißt dabei nicht motivische Vollständigkeit, sondern existentielle Qualität der antwortenden Aneignung.

Es ist an die dreißig Jahre her, dass meine Besuche im Atelier Ludmilla von Arseniews in einem Hinterhof an der Kölner Straße in Düsseldorf begannen. Ohne eine feste Regel dauern sie bis heute. Einige Treffen hatten einen beruflichen Zusammenhang – die meisten nicht. Ich wollte wissen, wie es mit der Kunst weiterging. Warum suchte und suche ich Auskunft gerade dort, da ich doch viele Künstler kenne und ihr Werk schätze? Ich glaube, es hat mit der Farbe zu tun und mit einem Prosatext Hugo von Hofmannsthals »Die Briefe des Zurückgekehrten«, den dieser 1907 geschrieben hat, und den ich, noch Schüler, anfangs der 1950er Jahre bewegt gelesen habe. Was ist wirklich? Der Marschschritt der Kolonnen und die Bombenteppiche der anderen waren es nicht gewesen. Was war und was wird wirklich sein? Die fiktive Figur des Zurückgekehrten begegnet in einer kritischen Lebenssituation der Malerei van Goghs und wird davon bewegt und verwandelt (Hofmannsthal, 4. und 5. Brief). Es ist die Farbe, die für ihn Tor zur Wirklichkeit wird. Das wollte ich im Atelier an der Kölner Straße sehen, und es öffnet sich: die vorausweisende Präsenz des Seins.

Hofmannsthal schließt seinen Text: »Und warum sollten nicht die Farben Brüder der Schmerzen sein, da diese wie jene uns ins Ewige ziehen?« (Hofmannsthal, 5. Brief).

Quelle: Dr. Adolf Smitmanns „Ich male, was mich bewegt“, Ludmilla von Arseniew, Katalog `Schenkung 24 Bilder aus 33 Jahren´, Markgräfler Museum, Müllheim/Baden 2011