Dr. Adolf Smitmanns
ORTE
„Orte“, griechisch also „topoi* – Ludmilla von Arseniew hat diese Benennung ihrer Ausstellung nicht gescheut, obgleich sie natürlich weiß, dass die Topographie, die Aufzeichnung der Orte, eine längst untergegangene Art des Landschaftsbildes ist. Selbstverständlich geht es auch nicht um Topographie im Sinn der Kunstgeschichte. Wohl gibt es die Plätze, die als Bildmotive dienen, tatsächlich. Ludmilla von Arseniew vermeidet Zusammenhänge mit der Welt außerhalb des Bildes nicht. Doch mindert das nicht die Einzigartigkeit des Bildes, das keinesfalls Landschaft reproduziert, also vom Aussehen der Landschaft her auch nicht beurteilt und kontrolliert werden kann. Nicht die Repräsentanz der Dinge ist der Bildinhalt, sonder die Erscheinung von Wirklichkeit. Damit ist freilich zunächst nur im Zusammenhang der Subjektivität neuzeitlicher Kunst und der Autonomie ihrer Mittel Sclbstverständliches gesagt und die besondere Position Ludmilla von Arseniews kommt noch nicht in den Blick.
Diese Bilder sind mir immer gänzlich unsentimental vorgekommen. So überrascht die Aussage: „Ich male, was mich bewegt.“ Sie ist aber beim Wort zu nehmen: Ludmilla von Arseniew malt eben nicht die Bewegung oder (Be-)Rührung als solche – eine Verwechslung mit der Empfindsamkeit des 19. Jahrhunderts ist ausgeschlossen -, sondern „was mich bewegt“. Das aber heißt doch: der Bildgegenstand ist verschieden vom Ich, und natürlich ist sofort zu fragen, ob eine solche Aussage für eine neuzeitliche Künstlerin nicht naiv sei. Wenn ich recht verstehe, spricht Ludmilla von Arseniew der Kunst einen subjektiven und einen objektiven Charakter gleichzeitig (besser, weil es nicht um Zeit geht: in eins) zu.
Dabei ist der Bezug auf das Bewegende als auf ein Wirkliches betont und wird zu sichern gesucht. Dadurch sind Missverständnisse möglich. „Wenn ich zum Fenster hinausschaue, bewegt mich etwas, das nicht benennbar ist, das Bildcharakter hat* (Ludmilla von Arseniew). Hat ein „Außen“ für die Bildfindung solche Bedeutung, so scheint die Zugehörigkeit zur Moderne in Frage gestellt. Für diese wird gerade die Einheit von Künstler-Ich und Natur als konstitutiv angesehen. Formal manifestiert sie sich durch die Aufhebung des Distanz schaffenden Horizonts und anderer distanzierender Bildelemente wie Fensterblick oder definierte Räumlichkeit (Gottfried Boehm verweist auf Turner, Marc, Klee, Wols u. a.). Die Frage der Einheit und/oder Distanz von Künstler-Ich und Bildgegenstand ist tatsächlich der zu diskutierende Punkt – zu diskutieren aber keineswegs nur für die Bilder Ludmilla von Arseniews. Wenn der Verlust von Distanz für das Thema Natur in der Kunst der Moderne konstitutiv ist, scheiden nicht nur die Landschaften von Otto Dix aus der Moderne aus (- was konsequent oft auch so gesehen wird), sondern ebenso die Landschaften Max Beckmanns, bei denen der Horizont nicht selten gerade für den Bildsinn wesentlich ist. Das ist hier nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen ist darauf zu bestehen, dass von Arseniew nicht dem Objekt jenseits des Fensters, sondern dem, „was mich bewegt“, Bildcharakter zuspricht (und natürlich ist das bei Dix und Beckmann ebenso).
Das Bild ist der Versuch, dieses Bewegende als Erscheinung zu bannen, anwesend zu machen. Das geschieht als Malerei, d.h. durch die Wahl des Ausschnitts, die oft kühn ist, Entscheidungen über Nähe und Aufsichtwinkel (der Horizont ist eher selten), Akzentuierung von Licht und Dunkel, wodurch Inseln entstehen und Schluchten und Durchgänge. Vor allem natürlich durch die Farbe, die früher eher großräumig und flächig aufgetragen wurde, während jetzt Linien unterschiedlicher Farbdichte und Entschiedenheit ein sehr viel beweglicheres Ausdrucksmittel geworden sind. Bei all dem wird das Bildmotiv nicht ausgelöscht, weil es tatsächlich eine Art Medium ist für das, was im Bild erscheint und weil es dieses als ein anderes charakterisiert. (Ich habe nicht davon zu handeln, ob eine solche „Erkenntnislehre“ wahr ist, sondern davon, was die Malerin macht.) In diesem Zusammenhang gewinnen die in der Bildgruppe „Orte“ auffallend häufigen Fenster- und Türdurchblicke einen wesentlichen und genaueren Sinn, weil sie eben nicht nur Distanz, sondern Ferne und Nähe zugleich ausdrücken: ein „Jenseits einer Schwelle“ bezeichnen und zugleich das „Erscheinen für mich“ sichtbar machen. (Eine ähnliche „Scharnierfunktion“ haben – bei anderer Weltanschauung – Beckmanns Horizonte, indem sie auf einen Hintergrund und einen Ausweg aus der Gefangenschaft im Jetzt verweisen.)
Auf der Wirklichkeit dessen zu bestehen, was mich bewegt, bedeutet nicht, darüber als Objekt verfügen zu können. Im Gegenteil: „Ich weiß nicht, was mich erwartet. Wenn ich suche, finde ich nichts“ (L. v. A.). Die Orte sind, wie sie im Bild erscheinen, nicht aufsuchbar. Damit gibt es nicht nur keine Topographie, sondern auch eine klare Abgrenzung von der Gattung des Landschaftsbildes, wie es die Kunstgeschichte aus der Landschaftsmalerei des 17./18. Jahrhunderts entwickelt hat. Stattdessen gibt es eine Berührung mit zwei ganz anderen Bildgattungen, wenn es denn überhaupt Sinn macht, jene aus der Geschichte gewonnenen Gattungsbegriffe auf die Kunst des 20. Jahrhunderts anzuwenden; tatsächlich sind sie in der künstlerischen Arbeit der Gegenwart ohne Äquivalent. Berührt (und verwan-delt) werden das Geschichtsbild und das religiöse Bild.
Natürlich ist der Titel der Ausstellung „Orte“ in Kenntnis des gleichnamigen Buches von Marie Luise Kaschnitz gewählt worden, das in Wahrheit eine Autobiographie ist. Die geographischen Orte begegnen darin als Orte der Existenz. Eine nur innere Biographie gibt es nicht. Ebenso gibt es auch keine Wahrnehmung von „Orten“, die nicht durchtränkt wäre von Biographie, von Ich und Du und Sie. Daher ist das Zeugnis von den Orten immer auch das Zeugnis einer Geschichte. Und es erscheint diese Geschichte im Bild, zusammen mit dem Platz oder der Stelle. In diesem Sinn sind die „Orte“ von Ludmilla von Arseniew, wenn man sie denn Landschaften nennen will, auch Geschichtsbilder, und dies auch dann, wenn, anders als im Giordano-Bruno-Zyklus, die allgemeine Geschichte nicht explizit wird. (Wie sie keine Topographien sind, so natürlich auch keine Historienbilder, die vom äußeren Ereignisablauf handeln.)
Ein anderes ist vor dem Hintergrund verfestigter Kategorien der Kunstgeschichte schwieriger zu formulieren. Was bewegt, hat Bildcharakter, erscheint als Bewegendes im Bild, Hier ist nun doch an einer Unterscheidung festgehalten. Und obgleich diese Terminologie nicht in einem religiösen Sinn gewählt worden ist, würde man in der Kunstgeschichte wohl vor allem vom religiösen Bild, genauer, vom Kultbild und von der Ikone, als einem solchen Gegenüber sprechen. Es ist üblich geworden, solche Parallelen als Säkularisierung ursprünglich religiöser Bildideen zu beschreiben, die der Sache nach zu profanen Signalen für Pathos und Bedeutung geworden sind. Der Verlust einer religiösen Bedeutung als solcher wird dabei vorausgesetzt. Darüber kann hier natürlich nicht diskutiert werden. Die Gegenthese lautet, dass es eine Übertragung religiöser Sprach- und Bildformen ohne eine gewisse Fortdauer ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht gibt. Auch sie ist hier nicht zu begründen. Zu fragen ist nur nach der Möglichkeit, dass das unverfügbare Bild eines Bewegenden nicht nur in einem historischen Sinn aus religiösen Quellen kommt, sondern ein religiöses Bild ist. Man mag um der Abgrenzung vom religiösen Bildmotiv willen diesen Sprachgebrauch vermeiden wollen. Zu bestehen ist aber darauf, dass für einen breiten und wesentlichen Strom der Moderne – von Cézanne über Kandinsky, Beckmann, Rothko und Newman und Beuys das Kunstwerk ein die Subjektivität und Beliebigkeit transzendierendes Ereignis ist.
Der eigentümliche Widerstand, den die Bilder Ludmilla von Arseniews einem registrierenden Sehen leisten, scheint mir damit zusammenzuhängen. Darüber ist nicht leicht zu reden, weil die bewegende Wirklichkeit ja im Bild erscheint. Immerhin haben nicht nur die Giordano-Bruno-Bilder Ereignischarakter (vgl. den Beitrag von Martina Ambrosi). Der Vorgang des Erscheinens ist auch unübersehbar in „Schatten – Licht“, 1986, „Tag – Nacht“, 1988, so auch der Untertitel von „Malachit-See“, 1987, ebenso „Morgenstandort“, 1986. Unnötig zu sagen, dass es nicht um impressionistische Lichtphänomene geht, sondern um eine Grenze, an der die Wirklichkeit ihre Bedeutung verändert. Bei „Heiliger Hain“, 1988, und auch bei den „Custodi di Ostia antica“ wird die Profanität des Gegenstandes ausdrücklich überschritten. Das geschieht freilich um den Preis des möglichen Missverständnisses, als läge die Besonderheit des Bildsinnes im Motiv, in den Gottheiten und Nymphen und im Quellbrunnen.
Tatsächlich ist es fatal, ja fast unmöglich, im säkularen Weltbild ein anderes sichtbar zu machen. Doch was erscheint, ist ja vor allem die Farbe, das wie von unten durchleuchtete Violett und das strahlende Gelb-Grün im oberen Bildteil („Heiliger Hain“). Und nicht die Custodi „erscheinen“, sondern die Tiefe jenes Schwarz-Grün, das gerade inmitten antiker Helligkeit so unzugänglich ist und fremd. Ähnlich trägt nicht der assoziative Aspekt des „Grasaltars“, 1989, den Bildsinn – er verstärkt ihn nur -, sondern jenes luzide Grün und die glühende Mauer. Bei den „Spine di mora“ fehlt das alles: Gras- und Brombeergestrüpp in den Ruinen des antiken Ostia. Dafür ist dies eines der Schwellen-Bilder, von denen die Rede war. Jenseits wäre allein die Mauer, wenn nicht das Licht den Raum verwandelte und gerade das Gras- und Brombeergestrüpp aufleuchten ließe als ein Anderes.
Die Kunst der Moderne, die so oft als ein Prozess der Auflösung verstanden wird, scheint angesichts solcher Wahrnehmungen von Überwindung der einteilenden Unterscheidungen der Kunstgeschichte eher auf dem Wege zu einer in der künstlerischen Individualität vermittelten Ganzheit zu sein. Gerade diese Ganzheit ist ihre Notwendigkeit. Sie zu gewinnen gibt es keine Regel und kein Fach. Vielmehr muss das Erscheinen von Ganzheit in jedem Werk neu gewonnen werden. Die Bilder Ludmilla von Arseniews scheinen mir von solchem Rang zu sein, dass eben dieses geschieht.
Quelle: Dr. Adolf Smitmanns, Veröffentlichungen der Städt. Galerie Albstadt, Nr. 69/1990 Ausstellung und Katalog, ORTE, S. 7-10, Kunstmuseum Albstadt