ANTJE M. LECHLEITER

DIE ZEICHNUNGEN

Die Musik hat bereits im 19. Jahrhundert aufgrund der mit ihrer Immaterialität zusammenhängenden Zeitlichkeit einen großen Einfluß auf die bildende Kunst ausgeübt. Der Versuch, die Bildkunst der Zeit als vierten Dimension zu öffnen, war später in der Entstehungsphase der Abstraktion besonders wichtig. Die dort auf ihre Übertragbarkeit hin überprüften Kategorien der Musik finden bis heute und auch im Zwischenbereich von Abstraktion und Gegenständlichkeit ihre Anwendung.

Ludmilla von Arseniew nennt einen Teil ihrer Arbeiten »Portraits« beziehungsweise »Partituren«. Die Zeichnungen verdeutlichen, daß die Entfaltung der »Partitur« auf dem Papier nicht zwangsläufig mit dem Klangcharakter der Farbe zu tun haben muß. Erzeugen in den Gemälden die Farben eine Mehrstimmigkeit, so treten die Graphiken eher solistisch hervor. Unweigerlich denkt man an Werke des Zen-Buddhismus, wo das einsame Lied eines Vogels im Winter zu kalligraphischen Meisterwerken »vertont« wird.

Das Licht und die Entfaltung der Farbregister auf der Leinwand eröffnen in den Gemälden einen imaginären (Farb)raum, doch auch bei der Arbeit mit dem Stift, der Feder und dem Tuschpinsel wendet sich die Künstlerin von der Darstellung eines Landschaftsraumes in traditioneller Weise ab. Bei den »Portraits« von Rebstöcken filtert ihre Wahrnehmung das Objekt von jeglichem überflüssigen Beiwerk. Formen und Strukturen verselbständigen sich, die Zeichenhaftigkeit des Einzelgegenstandes ermöglicht eine Vielzahl unterschiedlicher Assoziationen, die von den Sehgewohnheiten und Wahrnehmungserfahrungen des jewei-ligen Betrachters abhängen.

Unzweifelhaft beschreibt Ludmilla von Arseniew aber Zuständlichkeiten, der Rebstock auf dem Blatt »Exhumiert I« erinnert beispielsweise an einen Fallenden, und man denkt an das religiöse Thema »Sturz der Verdammten«. Reflexe aus der christlichen Kunst nimmt darüber hinaus das Motiv des Gefesselten auf (»Entwurzelt II«), das dort bei Darstellungen des Gekreuzigten und des Hl. Sebastian zu finden ist.

Es geht der Künstlerin allerdings weniger um religiöse Bilder im herkömmlichen Sinne als um das Bildhaftmachen von strukturellen Prinzipien. Die einzelnen Variationen der Bewe-gungsfiguren führen zu weiteren Bedeutungsebenen, so leitet die Assoziation mit Insekten in den Bereich der vormenschlichen Erdgeschichte und verstärkt die bereits in den Wein-stöcken angelegte Symbolik von Fruchtbarkeit, Leben und Wandlung. Insekten tragen eine ungleich längere Summe von Erfahrungen als der Mensch in sich und werden bei ihrem Handeln von Instinkten und über feinste Wahrnehmungsorgane gesteuert. Der Automatismus ihrer Handlungen schlägt sich formal in der stenogrammartigen Erfassung ihrer Körper nieder.

Eine rhythmische Grundform, die auf die Konfrontation von zwei entgegengerichteten »Handlungssträngen« hinzielt, findet sich sehr häufig in den Zeichnungen der Künstlerin: Der Stamm der Rebe ist auf eine vertikal verlaufende Linie ausgerichtet, und es entsteht eine Parallelität, welche die Darstellung im unteren Bereich des Blattes zur Ruhe führt (»tastend«). Die nach oben greifenden Äste sind dagegen frei beweglich, und die Stelle, an der sich beide Momente kreuzen, erzeugt eine sensible und besonders spannungsvolle Zone im Bild.

Die Dynamik des Reifens und Wachsens ist für Ludmilla von Arseniew eine Metapher für den Ablauf des Lebens, mit dem der Tod untrennbar verbunden ist. Das Thema »Entwurzelt« beschreibt dieses Spannungsfeld von Leben und Tod. Werden die Stöcke nämlich ausge-graben, »exhumiert«, dann verlieren sie mit ihren Wurzeln die Verbindung zur Erde und damit auch die Energie des Wachsens und der Reifung. Mit der Aufhebung der (partiellen) Festigung verschwindet die sich zuvor in reichen Nuancen entfaltende Fülle.

Variieren die »Portraits« ein Einzelmotiv, so steigern die »Partituren« diese Chiffren zu mehrstimmigen »Musikstücken«. Die Befestigungs-drähte der Reben erinnern an Notenlinien (»Tanz«), welche mittels der senkrechten Stützen wie durch Taktstriche unterteilt werden. Dazwischen beschreiben die Weinstöcke das Changieren und die Entwicklung der Töne, es gibt Wiederholungen, Verzierungen (»Schlachtfeld I«) und nicht zu vergessen Pausen – die leeren Stellen im Bild.

Der bei den »Portraits« beschriebene Gegensatz von labil und stabil findet sich auch in den »Partituren«. Hier werden die Reben in ein netzartiges Geflecht aus Drähten und Stützen eingespannt, das den Stöcken lediglich in der oberen Bildhälfte einen gewissen Freiraum gestattet. Diese formale Reduktion der wie in einem meditativen Akt hingeschriebenen Symbole für unterschiedliche Eindrücke und Assoziationen findet Eingang und steigert sich im Thema der Graphiken: Es geht um das Motiv des Gefangenseins, der Beschneidung und Zurücknahme, doch es ist unübersehbar, daß in den gezeichneten Portraits und Partituren von Ludmilla von Arseniew der Drang nach Reifung und freier Entfaltung in der »Oberstimme« zur Erscheinung kommt.

Quelle: Antje M. Lechleiter „Die Zeichnungen“, in Katalog Ludmilla von Arseniew `WEIN – berge – felder – stöcke´, Cantz-Verlag, 1995