HEINRICH THEISSING – Ludmilla von Arseniew, 1971

Ludmilla von Arseniew fügt ihre Bildgestaltung aus einem antithetischen Formprinzip. Strenger Bildordnung in der Gesamtkomposition antwortet Formoffenheit in der Feinstruktur, so daß sich eine eigentümliche Spannung von Ausgewogenheit und Unmittelbarkeit ergibt. Vereinfachung und Entwirrung der Darstellung werden mit spontanem Ausdruckswillen verknüpft.

Diese Synthese gegensätzlicher Formtendenzen findet ihren konsequenten Ausdruck im Thema der Landschaft. In ihr werden wenige, grundlegende Leitlinien aufgesucht, zwischen denen sich unmittelbare Pinselschrift und sublime Farbnuancierung entfalten können: Horizont, Wolkenbänder, Küstenstreifen … Für diese Wirkungen wird das Lokalkolorit fruchtbar gemacht. Es will allerdings nicht Individualformen, Einzelerscheinungen kennzeichnen, sondern zieht die Objekte zu Erscheinungsbereichen zusammen: Farbbahnen, die monochrom angelegt erscheinen, in sich aber stark variieren, ja unmerklich zu Konträrtönen überwecheln können. Die Fülle der Farbdifferenzierung erschließt sich bei zunehmender Dauer der Betrachtungszeit. Eine eindeutige Entscheidung gegen momentane Erlebnis-weisen wird getroffen, indem alle Mitteilungsformen zu langwährendem Sich-Einlassen auffordern, zum Verweilen und Sich-Versenken. Man hat zuweilen dieses Zeitverhältnis auf die russische Herkunft der Malerin zurückgeführt. Dies sei dahingestellt; mit Sicherheit wird man sagen müssen, daß hier eine bewußte Haltung gegen die visuelle Informationsschwemme und Informationsflüchtigkeit des technischen Zeitalters gegeben ist.

Hierbei kommen Gestaltungsprinzipien zum Tragen, die zur Verfremdung des Dargestellten führen. Indem alle Formmittel ausgespart werden, welche auf den Orientierungssinn des Betrachters Bezug nehmen, entzieht sich die dargestellte Landschaft. Da keine Perspektive geboten ist, kann der Beschauer weder seine Entfernung zum Dargestellten noch einen festen Standpunkt davor bestimmen; und der Verzicht auf Gegenstandswiedergabe vorenthält dem Auge jeglichen Fixpunkt. So wird das Blicken verunsichert, einer Haltlosigkeit überlassen, die über das Betrachten hinaus zu einem meditativen Verhalten führt.

Indem auf diese Weise der konkrete Bildinhalt dem Betrachter ungreifbar wird, bewahrt das Bild selbst seine Eigenständigkeit. Es ist nicht Nachahmung, vermittelt nicht die Illusion einer bestimmten Außenwelt, sondern es erscheint als autonomes Flächengebilde. Es begegnet als Bild, während es als Abbild fremd und distanziert bleibt. Die Naturwirklichkeit, die in ihrer individuellen Erscheinung entgleitet, erhält als bildnerischer Begriff eine neue Konkretheit. Die Farbe als ausschließlicher Bildträger überführt die rational meßbare Welt in einen Zustand der Raum- und Zeitlosigkeit, so daß die Kunst zu einem eigenen Erfahrungsbereich wird.

Die geistigen Wurzeln für diese Kunst liegen in der Malerei des 20. Jahrhunderts und reichen bis zum Anfang des 19.Jahrhunderts zurück. Die Formverbindung von Gesetzmäßigkeit und Freiheit, die Ludmilla von Arseniew herstellt, fußt auf Entwicklungslinen, welche getrennt in Mondrian und Kandinsky zum entscheidenden Ausdruck kamen: der Wille zu Ordnung und Geschlossenheit einerseits, andererseits das Streben nach Auflösung und Unstrenge. Diese gegenpoligen Tendenzen zur Einheit zu bringen, wird unternommen, wobei Problemstellungen des romantischen Denkens neu reflektiert werden. Ohne daß es der Malerin bewußt war, hatte schon Philipp Otto Runge den Begriff „Wolkenbilder“ geprägt.

Caspar David Friedrichs Landschaften suchten aus romantischem Bewußtsein die Wirklichkeit zu transzendieren. Dies geschah in einer dualistischen Spannung von Diesseits und Jenseits. Solche Dialektik ist für den Künstler des 20. Jahrhunderts nicht mehr prägend. Er kann sie aufheben, indem er das Bild als eine eigene Wirklichkeit, als selbständiges Gebilde schafft. So wird für Ludmilla von Arseniew ein Kunstwollen bestimmend, das in jeder Hinsicht zur Synthese strebt, zu einer Vereinigung von Ordnung und Freiheit, von Rationalität und Irrationalität, von Endlichkeit und Unendlichkeit.

Quelle: Heinrich Theissing in Katalog `Ludmilla von Arseniew – Arbeiten von 1958-1980´, Düsseldorf 1980