KARL BOBEK – Ludmilla von Arseniew, 25. 11. 1974, Maroth

Im Nachdenken vor den Bildern der Arseniew formiert sich in mir der Ausdruck „Verwaltung des Gefühls“.

Der Ausdruck muß befremden, ja beleidigen: Wir werden zuviel verwaltet, die Gefühle wollen wir heraushalten. Kann man ein Vermögen verwalten? Ich denke ja. Nun denn, ich will dem Ausdruck seine Unschuld zurückgeben: Betrachten wir unsere Gefühle als ein Vermögen!

Was für ein Vermögen? Man neigt heute dazu, Gefühl im Sinne des Engagements zu verstehen, als Intensität schlechthin, als intentionelle Energie. Ich meinerseits möchte das Gefühl das empfindlichste Instrument unserer Orientierung nennen und damit die Fähigkeit zur Klärung des Gefühls als Qualität vor die Qualität (und Quantität) des Gefühls selbst setzen.

Das ist allerdings eine Orientierung, die auf Handlung drängt. Sie rückt damit in die Nähe von Irrtum und Schuld. Aber noch die Entscheidungshandlung ist Orientierung – in einer sehr tiefen Schicht unserer Existenz, die früher von den Religionen verwaltet wurde. Heute besteht unsere einzige wirkliche Möglichkeit, gesellschaftliche Normen neu zu orientieren, sie moralischer zu machen, in dieser fundamentalen Klärung des Gefühls – einer Orientierung, die mit Revolte nichts zu tun hat und doch den Zusammenstoß mit Normen unvermeidlich herbeiführt.

Nun wird man einwenden, daß eine solche Auffassung von Gefühl sehr weit entfernt sei von dem, was man mit Verwaltung verbindet. Weit besser stünden hier Begriffe wie Entdeckung, Erkundung, Exploration. Eben die europäische Geschichte muß als ein fortdauernder Versuch der Exploration, der Emanzipation des Gefühls verstanden werden.

Ich bin ganz dieser Meinung. Mich interessiert hier allerdings die Frage: Wie hat denn die Kultur jene fortdauernde Exploration des Gefühls überstanden? Nachdem die alten kollektiven Signale des Gefühls in die Selbstverwaltung der Liebenden, Hassenden, Mitleidigen und Verachtenden gelegt waren – auf welche neue Weise lernten sie sich zu fassen?

Und, da man den Fuß in den Fels hieratischer Gefühle nur unsicher, nur vorläufig setzen konnte, wie hat man sich in den Biwaks des langen Aufstiegs in die Freiheit eingerichtet?

Ich glaube, daß diese Frage im Besonderen Bedeutung hat für die Erforschung der Struktur individueller moderner Stile.

Vielleicht kann man der Hypothese zustimmen, daß die Syntax der im Medium gebundenen gefühlsorientierten Symbole Ausdruck des Versuchs einer Ordnung der Gefühle selbst ist.

Gemeint ist nicht nur eine Rang- oder Wertordnung der Gefühle. Die Hypothese impliziert, daß unter dem Druck der Motiviertheit, Fassung in antagonistische Empfindungen und Gefühlskomplexe zu bringen, eine neue, übergeordnete Gefühlswelt überhaupt erst entsteht. Hier ist die Wechselwirkung zwischen der Leistung einer vorgezogenen fundamentalen Gefühlsklärung in der Existenz – und der Hilfe, die die strukturelle Klärung im Bild leistet, ganz evident.

Diese Gedanken sind ja nicht neu. Man hat allerdings wenig Ernst mit ihnen gemacht. Sicherlich wären, würde man es tun, einige Einsichten über kulturpsychologische wie über ästhetische Prozesse zu gewinnen, die noch ausstehen.

Man hat davon gesprochen, daß die Bilder der Arseniew zwei scheinbar widersprüchliche Bildtendenzen in der Balance halten: Illusionsbild und Streifenbild. Es scheint so, daß der Rezipient durch diese interpretatorische Ambivalenz sowohl beschenkt wie verunsichert wird: Er vermutet hier die Ursachen für die eigenartige licht- und umraumempfindliche Schönheit der Bilder und zugleich argwöhnt er eine Unentschlossenheit im Medium, in der Wahl fester oder transluzider Farbmaterie und Unsicherheit über deren mögliche spirituelle Wirkungen.

Eindeutig geht es der Arseniew um das Licht – oder besser: um die durch das Licht getragene Dimension des Raumes. Dieser Raum ist keinesfalls Modellkonstruktion vorgestellter Räumlichkeit. Er ist Unendlichkeit, an der Natur erlebtes Phänomen der Schwindung der Körperraum-Erfahrung bis an die Grenze der Unterscheidung überhaupt. Daß ein solcher Raum seiner Darstellung in der Fläche große Schwierigkeiten entgegensetzt, bedarf keiner Erwähnung, denn die Dimensionierung eines solchen Raumes erfordert eine adäquate Differenzierung der Schwindungswerte. Aber selbst, wenn diese Differenzierung gelingt, scheint es keine andere Lösung zu geben, als die totale Illusion. Da sie nicht gewählt wird, nicht eintritt, darf man schließen, daß flächenkonstruktive malerische Mittel zur Verfügung stehen, die eine Freigabe der Tiefenillusion erlauben, ohne daß die Flächenstabilität verloren geht.

Eine ähnliche Gespanntheit des malerischen Mittels zwischen heterogensten Forderungen gibt es nur bei wenigen Malern der europäischen Geschichte, etwa bei Vermeer, Georges de Latour, C. D. Friedrich. Ist man ohne weiteres nicht bereit, das Miteinander dieser Namen zu akzeptieren, wird die Nennung einer anderen Reihe kategoriale Gemeinsamkeiten deutlich machen: Chardin, Courbet, Cézanne erarbeiten im Gegensatz zu ihnen eine materiale und strukturelle Homogenität, die dem kräftemäßigen Aufbau, den internen Relationen der Natur mehr verpflichtet ist, als dem Erlebnis ihrer Dimension. Sie stellen – auch noch in der größten Treue zur Natur – Modelle von ihr her. Jene aber öffnen Meditations-Porten zur Überschreitung ihrer Dimension. Von den genannten Malern steht sicherlich C. D. Friedrich der Arseniew am nächsten. Bei ihm ist ein Mittel zu studieren, das in eigener Weise bei allen Malern dieser Charakteristik eingesetzt wird, um die Spannung der heteronomen Bildforderungen zu überbrücken: das Gegenlicht. Ich will über den spirituellen Gehalt dieses Mittels keine Aussagen machen, obschon hier wie überall Gehalt und optischer Befund gar nicht zu trennen sind. Es geht mir darum, an Friedrich Sachverhalte aufzuweisen, die auch für die Arseniew zutreffend sind, an ihren Bildern aber kaum demonstriert werden können. Das Gegenlicht bewirkt in der Natur eine eigentümliche Verschattung, die alle Farben monochrom tendieren läßt. Im Bild wirkt diese Verschattung wie ein monochromer Unterstrom, der die Lichtqualität der Farbkontraste zwar trägt, die Farbqualität als solche aber in die Fläche zurückbremst. C.D. Friedrich stand nicht unter dem Postulat einer modernen malerischen Tradition, die der Farbqualität als solcher zur Wirkung verhelfen wollte. Es ist sehr schwer, zu rationalisieren, auf welche Weise es der Arseniew gelingt, unterhalb (oder innerhalb?) der – sowohl vom Hell-Dunkel wie von der farbpsychologischen Charakteristik – sehr gespannten Kontraste eine Generalität herzustellen, die die flächenstabilisierende Wirkung einer Monochromisierung erzielt. Daß auch sie Gegenlicht-Situationen favorisiert, ist sicher, es scheinen aber auch ganz andere Faktoren beteiligt.

Ich vermute, daß die eingangs erwähnte Balance zwischen Streifenbild und Illusionsbild in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt. Das Streifenbild arbeitet mit der konkreten Raumfarbe, d. h. die Farbqualität als solche steht syntaktisch für Raum – sie vertritt nicht das Licht im dimensionierten Raum. Eine solche Farbe hat eine spirituelle „Gegenwärtigkeit“, sie tendiert zum Magischen, nimmt unmittelbar Bezug zum Interpretanten und verweist auf eine Bedeutung, die sich nicht selbst darstellt. Wenn bei der Arseniew solche Farben vorkommen, scheinen sie im Widerspruch zu den Bildaussagen zu stehen, die sie über Licht und Dimension macht.

Dennoch erfüllen diese Farben in ihren Bildern offenbar zwei Aufgaben; sie vertreten aus den Dimensionen der Tiefenillusion ableitbare, psychologisch notwendige Distanzen (freilich ohne gegenständliche Definition) – und sie machen den Flächencharakter des Bildes fühl-bar, faßbar. Die Doppelfunktion dieser Farbe könnte wie ein Schaltwerk in der Rezeption des Bildes wirken. Bildraum – Illusionsraum.

Es muß zugegeben werden, daß es der Arseniew nicht immer gelingt, die Diskrepanzen in der heterogenen Verwendung der Farbe zu verarbeiten – daß es ihr überhaupt gelingt, macht erstaunen.

Aus der Entwicklung der Arseniew läßt sich ablesen, daß ihre Intention, die Dimension mit Hilfe des Lichts zu überschreiten, auf eine religiöse Grundgestimmtheit zurückgeht, die im Christlichen ihre Fundamente haben mag. Aus dem Raum der ostchristlichen Kultur könnte ihre Bereitschaft stammen, die Gegenwart des Geistes anzurufen, d.h. Spiritualität im materiellen Objekt gegenwärtig werden zu lassen. Meditation und Ikone sind nicht nur begriffliche Topoi für die Kennzeichnung eines sehr verkapselten irrationalen Kerns ihres Weltverhaltens – sie verweisen auch unmittelbar auf jene sonderbaren Bemühungen ihrer Malerei, die transzendenten Empfindungen in die Fassung des zwingenden hic et nunc der Bildmaterialität zurückzulenken. Absolute oder auch nur homogene Bilder, im Sinne einer die Widersprüche aufhebenden Imagination, sind dies nicht. Im Prozeß der Rezeption ist das leise Geräusch der intellektuellen Rückkoppelung zu vernehmen: Hingabe an die fließende Information bis an die Grenze der Unterscheidung, Hinausgeworfenwerden in die Erkennung des Bildfaktischen, das Statuieren der farbfunktionellen Ambivalenzen, und erneute Hingabe an das transluzide Medium – das alles hat eine berückende, entrückende Schönheit und hinterläßt doch ein ungestilltes Verlangen.

Mit den großen Bildern, die an ein und derselben Landschaft und im gleichen Format die Lichtverhältnisse und den poetischen Gehalt dreier Tageszeiten, Morgen, Mittag und Abend, demonstrieren, scheint ein vorläufig Äußerstes erreicht. Sprödigkeit und Wärme – seit jeher unversöhnt in der Psyche der Arseniew – haben extreme Stellungen bezogen. Sie selbst sagt mit Ironie, und sie sagt es, als ließe sie ein Blech fallen, daß sie „wieder zur Erde zurückkehren“ werde. Was meint sie damit?

Sucht Ikarus, nach seinem Flug ins Grenzenlose, den Sturz in den Acker? Will sie fortan mit der Lichtenergie den schlafenden Lehm zerschießen? Handelt es sich um malerische Probleme, die sie mit der Verringerung der Distanz zum Objekt für sich zwingend aktualisieren möchte: Konkrete Farbe und Beschwörung anstelle von Lichtfarbe und Transzendenz? Das wäre die Einleitung einer gewaltigen Verwandlung – oder zählt nur die Etüde, die Übung für anderes?

Alles das würde nur halbe Wahrheit treffen. Es ist nicht zu erwarten, daß die Arseniew ihr Gefühl einer periodischen Erkenntnis preisgeben wird. Denn sie ist so wenig Gaukler, Manipulant, daß selbst das Experiment ihr in gewisser Weise suspekt ist. Die Arseniew ist auch kein Erfinder, kein Aktionist, sie ist auch nicht Erklärer, Konstrukteur, Bewältiger oder Organisator von Welt. Sie ist eine Schwester jener sehnsüchtigen Maler, deren Gefühle das Unendliche streiften und deren Intelligenz und Selbstzucht das Logische verlangten. Sie gehorcht einer Moral der Schönheit, sie sagt, daß die Modelle, die man sich von der Welt machen kann, nach keiner Richtung wahr sind: weder haben sie die Dimension unseres Gefühls noch die Genauigkeit ihrer Funktionen. Es schmerzt sie, daß die totale Identifikation von Welt nicht zu leisten ist – so bewahrt sie die Gespanntheit des Gefühls davon – und tut das notwendig Objektive um der Kommunikation willen. Vielleicht darf man jetzt sagen: Sie verwaltet ein Vermögen, dessen Besitz nicht gesichert werden kann.

Quelle: Karl Bobek in Katalog `Ludmilla von Arseniew – Arbeiten von 1958-1980´, Düsseldorf 1980