LUTZ WISSLER

Auf einer rotgrundigen Schale des Exekias, um 530 v. Chr.,‘ sehen wir im Innern eines Schiffes halb aufgerichtet ruhend Dionysos den Blick vorwärts ein wenig empor zum Mast gerichtet. Dieser ist doppelt umschlungen von einem Rebstock, dessen Trauben tragende Zweige die Segel des Schiffes in Höhe und Breite weit überragen: Dionysos spendet der Menschheit den Wein; Pfahl und Rebstock in großer stilistischer Gebärde. (Eine Legende hierzu gibt ein altionischer Dionysos-Hymnos, der Homer zugeschrieben wird.)

Rebstock und Pfahl, Erdreich und Landschaft, in der dieses Göttergeschenk hier im Markgräfler Land gedeiht, das ist seit etwa 1990 das Thema der Malerin Ludmilla von Arseniew.

In Wilna von russischen Eltern geboren, ist sie gleich nach dem Abitur dem Anruf der bildenden Künste, genauer der Malerei, gefolgt und hat diesen Weg gegen alle Widerstände, die sich bei einer so entschlossenen eher ungewöhnlichen Berufswahl für eine junge Frau ergeben, unerbittlich weiter beschritten. Stationen und Orte des Verweilens und Malens seien hier nicht näher beschrieben, Stichworte finden sich in der VITA dieses Bandes. Auch eine Geschichte ihrer Kunst kann hier nicht gegeben werden, wenn diese auch in wechselnder Thematik und variiertem Sehen sich in Lebensabschnitten ihrer Zeit abspielt und somit Geschichte bildet. Immer ist es gegenständlich Gesehenes, was sie zur künstlerischen Metamorphose, zum Umsetzen in ein Bild herausfordert. Das ist auch die Grundlage allen früheren und späteren Komponierens gewesen, auch wenn sich Geheimnis, Trauer, Freude, Vergänglichkeit und Wiederauferstehen wie unversehens in einem mythischen Hauch in ihren Bildern einfinden können: Wer zu sehen weiß, erkennt die sich wandelnde Natur. So geben ihre Bilder oft Zeiten an, Jahreszeiten, die unverwechselbar charakteristisch sind, aber beim zweiten Blick schon die Zeit vor oder nach dieser Zeit ahnen lassen.

Ihre Kunst ist durch die Jahre hindurch eine eigenständige Malerei geblieben, d.h. sie hatte stets ihren »eigenen Stands, unbeirrt von spektakulären Zeitforderungen oder Anleihen bei technisch physikalischen Staffagen. Und auch die Sehweisen, das Auffassen der Erscheinungen dieser Welt, das Staunen vor Wirklichkeit und Licht, darin sich Werden und Vergehen spiegeln, sind Modalitäten des Malerischen ohne jede Attitüde gezwungener Abstraktion.

Diese Eigenständigkeit bedeutete auch einen eigenen Stand gegenüber den Wünschen von Kunstmarkt und Galerien zu bewahren.

Ludmilla von Arseniew lernte das Markgräfler Land und den Kaiserstuhl in den achtziger Jahren bei mehrfachem Durchreisen nach Rom mehr absichtslos als kunstgezielt kennen, war angetan und bezaubert von Landschaft und Licht und wünschte nach Abschluß der Rombilder hier zu malen. Es gelang ihr auch eine Bleibe zu finden, von der aus sie zu jeder Zeit, die ihr ihr Düsseldorfer Wohnsitz und ihre Münsteraner Lehrverpflichtungen ließen, sich diese Landschaft zeichnend, skizzierend, malend zu eigen machte. In ihren künstlerischen Betrachtungen und Darstellungen fand sie oft ein fast «sprechendes« Gegenüber in den Reben, einzelnen Rebstöcken und in Verbindung hierzu Rebpfählen. Bei den ersten Malen dieser Aufenthalte war ihr sicher selbst noch nicht bewußt, welch* umfassendes Œuvre hieraus in den Jahren entstehen sollte. Den Spätherbst, Winter und Frühjahr 1993/94 konnte sie in Kontinuität in HEITERSHEIM verbringen dank glücklicher Vermittlung im derzeit wenig genutzten ehemaligen Minoriten-Kloster und jetzigen katholischen Pfarrhaus. Hier entstanden neben zahlreichen (eigentlich: zahllosen, das tägliche Pensum bedeutet 10 bis 20 Blätter) weiteren Skizzen in verschiedener Technik eine Reihe von großen bedeutenden Bildern, die neue Aspekte des schon gestalteten und groß formulierten Werkes gaben. In einer Ausstellung im Kloster zu Ende dieser Zeit konnte ein Teil der dort entstandenen Arbeiten gezeigt werden. Ihren groß angelegten Bildern liegen sehr viele kleinformatige Studien in Blei, Kreide, Aquarell zugrunde; diese werden in großer Abgeschiedenheit in der Natur bei jedem Wetter geschaffen und die selbstvergessene Versenkung in ihre Objekte zeigt den winterlich kahlen Weinstock noch Leben verkündend und in seinem Wachstum ein pflanzlich geheimnisvoll geformtes Individuum wie sonst nur die Olive. Eine komplexe Realität der stummen Geschöpfe der Natur wird hier im Bilde zum Sprechen gebracht. Der Urgrund dieses Schaffens liegt in Einsamkeiten und Schweigen, die tage- und wochenlang in großer Konzentration durchlebt werden. Duns Scotus, Scholastiker des späten Mittelalters, sagt hierzu: »Ad personalitatem requiritur ultima solinudo.« Und Goethe kurz und treffend zum Thema der Schöpfungskraft (heißt heute Kreativität): »Meine Sachen werden Kinder der Einsamkeit« Wenn in den malerisch berückenden Darstellungen früherer Jahre (Rombilder, Pompeii-Bilder) noch emotionale Züge hinsichtlich Vergänglichkeit, Vergehen und Werden, der »quasi Sieg« der Natur über von Menschen Geschaffenes anhalten mag, so ist die Erkenntnistiefe der Bilder dieser Jahre jetzt von großer Reife und Selbstverständlichkeit gegenüber dem stillen Wachsen aller Natur, der einsamen Rückkehr in die stumme Erde und der kraftvollen Belebung des neuen Werdens.

J.J. Bachofen schreibt in einer Aufzeichnung 1854: »Die Stille der Natur ist die würdigste Umgebung einer ewigen Wohnung. Wenn den Menschen Alles verlassen hat, so umschlingt noch die Erde mit ihren Gewächsen das steinerne Haus.« – Die Menschen, die, wie unsere Medien immer wieder vermitteln, offenbar den Tod wollen, finden hier in diesen schönen Bildern das Continuum von Werden und Vergehen, das Entstehen von Gewächsen, Blüten und Frucht aus dem Grunde verschwiegener Vergänglichkeit, die Überwindung des Todes. Es ist in diesem Rahmen, der mehr Hinweis als umfassende Würdigung geben kann, nicht möglich, auch nur die »großen« Bilder zu interpretieren, »Schauhilfen« zu geben (wenn sie denn nötig sind), kurz eigene Auffassungen herauszustellen. Auf einiges sei jedoch verwiesen, weil hier Strukturen ihrer Malerei (und deren Wirkung auf mich) in Erscheinung treten:

Folgende Bildtitel der Bilder: »Nach dem letzten Herbst‹, »Hinter St. Ilgen«, »fettes Gras« aber auch »Böschung« und »Krähensenke« wie »Weizenfeld» (wo gibt es seit van Gogh ein solches Feld!), auch »kleines Maisfeld«, zeigen – dieses sei nur herausgegriffen – eine Vielzahl unendlich sensibler Pinselstriche, die im einzelnen absichtslos erscheinen, im ganzen aber in ihrer unbeschwerten Strichführung in großem Raffinement die Flächen beherrschen, um die eigene Besessenheit des Sehens zu bezwingen und zum Bild zu führen. Das Absichtslose zeigt sich hier als Triumph letzter malerischer Absicht. Auch diese im Format größeren Bilder zeigen einen malerischen Kosmos neben den anderen, aus denen in musikalischem Fließen ein Crescendo und Decrescendo von Licht und Schatten wird, wie der dirigierende Wind es anordnet. Diese in letzter Zeit erneut gemalten großen Felder, wie sie in der Nachbarschaft der beschworenen Einzelstücke von Reben und Buschwerk sich in der Landschaft finden, geben einen – vorläufigen – großen Schlußakkord europäischen Verstehens unserer Erdoberfläche wie sie auch im Südwesten Badens dargestellt werden kann. Dies sind die gewandelten Gesichter einer verzauberten aber auch entzauberten Natur, unterschiedliche Zustände bedeutend, den Mythos des Ortes kennzeichnend und eingeordnet der großen künstlerischen Sicht einer im Grunde stillen Landschaft, deren Schönheit erblickend der Mensch verstummt und ergriffen auf Zeichen lauscht. Der sich so vollkommen darbietenden Natur malerisch bedeutend entgegenzutreten, erscheint fast ein Wagnis. Eine Freundin von Ludmilla fand den Satz: Ihre Bilder sind die Transzendierung der Natur durch den menschlichen Geist.

PS.: Wir sind Freunde von L.v.A., sind in ganz anderen weltlich-normalen Berufen tätig, haben aber unsere Augen für uns behalten nicht nur gegenüber Sensation und Spekulation, sondern auch gegenüber der Malerei von L.v.A., der wir versucht haben, kritisch in zeitlichen Abständen zu folgen. Wir sind auch mit unserem Leben dem Markgräfler Land in Jahrzehnten verpflichtet und sagen dankbar in Analogie zum Beginn (EXEKIAS ENOIEZEN) »Ludmilla pinxit«.

Quelle: Lutz Wissler, in Katalog Ludmilla von Arseniew `WEIN – berge – felder – stöcke´, Cantz-Verlag, 1995