Ludmilla von Arseniew – Antwort an einen Kunststudenten
Es fällt mir ziemlich schwer, zu Ihren Ausführungen etwas „Erlösendes“ zu sagen, weil ich nicht ganz sicher bin, Sie in allen Ihren Äußerungen verstanden zu haben.
Zunächst scheint es Ihnen um das Problem zu gehen, mit welcher Orientierung Sie zeichnen sollen, reflektierend die beiden stilistischen Möglichkeiten, gegenständlich oder ungegenständlich: vom erlebten Phänomen ausgehend oder das Phänomen der zeichnerischen Elemente, Punkt, Linie, Fläche untersuchend. Hinzu kommt die Frage nach den künstleri-schen Vorbildern, Nachahmung oder originale Erfindung, dann noch die Frage nach dem Wert des Skizzenhaften. Und endlich die Behauptung eines „inneren Maßes“.
Soweit sehe ich rein inhaltlich einen Strauß von Fragen, die ich versuchen will, aus meiner Sicht und Erfahrung zu beantworten oder auch nur Assoziationen zu den genannten Phänomenen beizusteuern.
1. Vorbild berühmter Künstler.
Jeder Künstler hat von seinen Vorgängern gelernt. Jeder hatte diesen oder jenen für sich selbst entdeckt, weil dieser oder jener so zeichnete oder malte, wie der Lernende auch glaubte zeichnen zu sollen, oder wie er glaubte, daß der Berühmte ihm etwas vorzeigt, das ihm selbst verwandt ist, oder weil er glaubte, im Nachmalen den Berühmten erst richtig verstehen zu lernen. Alle drei Wege sind legitim, möglich und gleich nützlich, wenn der Lernende in der Lage ist, irgendetwas Wesentliches und nicht nur äußerlich Ästhetisches am berühmten Vorbild zu erkennen. Delacroix hat Rubens kopiert, Manet studierte eifrig Goya und übernahm dessen Schwarz- und Grautöne, von Gogh zeichnete nach Vorbildern, es gibt kaum einen, der es nicht getan hätte, außer im 20. Jahrhundert, wo diese Form der Tradition, des wortwörtlichen Weitergebens von malerischer Erfahrung aufgegeben wurde zugunsten einer großen Betonung und Forderung der Originalität.
2. Anregung ist dann möglich, wenn man nicht nur rein äußerlich eine Strichführung oder eine Handschrift nachahmt, weil sie einen beeindruckt, sondern – und das ist wichtig – weil man sich aus unerfindlichen Gründen völlig einverständig mit dieser Art erklären kann, weil sie einem so nah ist, verwandt usw. – Gerade im Mittel, nämlich im Aussehen der bereits vorhandenen Zeichnung, ist die Übersetzung von Wirklichkeit eines anderen Künstlers übertragbar, man braucht ja nur ab-zu-zeichnen, oder so ähnlich wie!
3. Ob die gegenständliche Zeichnung wirklich notwendig ist, hängt einzig und allein davon ab, ob der, der sie macht, damit eine Not wendet. Aber in diesem Absatz verstehe ich manches nicht. Die Form schlechthin gibt es ja nicht, oder nur im Denken. In der zeichnerischen Realität hat sie einen Ursprung, der sehr unterschiedlich sein kann: Nachahmung eines bereits vorhandenen Formbildes, oder Neuerfindung einer noch nie dagewesenen Form, oder zwischen diesen Extremen (un)geschickte Nachahmung eines Umrisses, oder einer Perspektive, oder einer Vorstellung, oder beim Zeichnen selbst durch Ausprobieren das Zu-einer-Form-kommen, die man vorher gar nicht intendiert hat, endlos kann man dies fortsetzen! Die Form hat keine Aufgabe, und wieso ist sie Flucht vor Inhalten? – Was sprachlich durch evokative Begriffe bezeichenbar ist, und man kann ja auch mit Sprache Bilder im Leser oder Zuhörer evozieren, das bedarf keiner zeichnerischen „Veranschaulichung“, es ist ja konkret im Wort, und evoziert in der Vorstellung. Wer das dann noch zeichnet, der illustriert, bildet also eine durch Sprache erzeugte Bildvorstellung ab. Das kann auch ganz schön und befriedigend sein, z. B. Gustav Doré zu Dantes Göttlicher Komödie, aber da gilt, was immer für uns heute gilt: Früher, d.h. sogar noch im 19. Jahrhundert gelang es Künstlern leichter, nicht zwischen verschiedenen Schichten der Kunst trennen zu müssen. Prinzipiell ist das zwar auch weiterhin so, auch Illustration kann Kunst werden, aber Kunst ist nicht Illustration! Hier wäre Ihre Auffassung jetzt akut, die Zeichnung vom Ballast der Gegenständlichkeit zu „reinigen“. Doch das ist ja gar nicht so leicht. Das liest sich auch bei Kandinsky mehr philosophisch reflektierend als auch nur irgendwie so einfach anwendbar auf den Vorgang oder gar die Notwendigkeit zu zeichnen. Das fragen Sie ja auch. Die Linie ist ebenso Er-lebnis, was immer heißen muß: Aneignung von Leben, wie jedwedes Phänomen der sichtbaren Welt Er-lebnis ist oder sein kann. Die Linie ist nur ein Teil dieser Welt. Der, der sie zieht, verrät in der Weise des Liniensetzens, -ziehens, wie er sich zur Linie und zur bezeichneten Welt verhält: reflektorisch, analytisch, emotional hingebend, entfremdend, verfremdend, beobachtend, sezierend, anwendend die Linie als beliebiges und charakteristisches Mittel, wie jedes andere usw. Kandinsky wie auch Klee machen ja nur klar, daß das Movens einer Linie eine Kraft ist, die auf einen Punkt ausgeübt wird, und diese Kraft kommt aus dem Verhältnis, das der Linien ziehende Mensch zur Linie und zum Phänomen der Realität hat. Das würde besagen, jede Linie ist abstrakt, ob sie nun für sich selber steht, wie der Ton, oder eine Folge von Tönen in der Musik, oder ob sie mit diesem Für-sich-selbst-stehen auch noch ein Er-lebtes an der Wirklichkeit mit evoziert.
Man braucht ja nur Klee-Zeichnungen zu betrachten, und man wird von ihren Linien bewegt im Anschauen auf das Ding hin, das da auch in der Zeichnung bewegt wurde, oder weiter zurück Rembrandtzeichnungen, die alles, was ihm unter die Augen kam, skizzenhaft schildernd, charakterisierend festhalten, ohne auch nur eine Sekunde lang das Zeichnen oder die Linie zu reflektieren! Da war das Er-lebnis als Ereignis so heftig offenbar, daß die Zeichnung wörtlich dazu diente, das Ereignis des Erlebten durch linienhaftes Sich-vor-Augen-führen, überhaupt erst zum Erlebnis machen. Sonst wäre es nur ein Wahrgenommenes geblieben, aber nun, da es gezeichnet war, hatte Rembrandt sich das emotional bewegt Wahrgenommene einverleibt, er hätte es als Dichter in Worte fassen müssen, so, daß der Leser in die gleiche Spannung des Erlebbaren gesetzt würde und über die Kunst (ob mit Sprache oder Zeichnung) nun selbst eben jenes Erlebbare im Kunstwerk erleben kann. Erleben heißt natürlich nicht irgendwas, sondern es bedeutet schon, daß man voller Anspannung, voller Offenheit, voller Lust, voller Erkenntniswillen in seinen Sinnen, voller Bereitschaft im Sinnlichen Betroffenheit zuzulassen, voller unbezähmbaren Drang, all dies Erlebte mitzuteilen, ist. Meistens wird der Mensch es in unserer Kultur mit Hilfe der Sprache, der Erzählung, Schilderung tun. Zeichnen muß nur der, der dieses höchst knetbare Phänomen und Zeichenhafte erfüllender als Ausdrucksmittel er-lebt, als die Sprache, dem Zeichnen besser gelingt, adäquater Erlebtes mitteilen läßt als Sprache, Pantomime, Musik, etc. es bei ihm könnten.
4. Authentizität, das innere Maß.
Das innere Maß äußert sich immer mit; wo es herkommt? Immer daher, wo man gläubig ist und erkennend. Das heißt, das innere Maß leitet sich aus dem ab, was der Mensch für das höchste Gut hält, das Leben etwa oder Gott, oder das Geld, oder die wissenschaftliche Er-kenntnis, oder die Freiheit, usw. Das ist heute sehr verschieden bei jedem, teils ist man unbewußter Mitläufer irgendwelcher Werte, die so irgendwie überall auftauchen, Geld, Gesundheit, z. B. sind solche Werte heute, oder man sucht nach irgendeinem höchsten Gut, das unabhängig sei von beliebigen Einflüssen. Das ist schon im tiefsten das innere Maß, die innere Orientierung, die innere Perspektive, unter der Welt dann erlebt wird, beurteilt wird, auch in der Kunst. Das innere Maß kann unentwickelt, unklar. verstellt sein. Dann sieht der erfahrene Betrachter das auch in der Zeichnung. Es kann die Nachahmung, unbewußt, eines fremden inneren Maßes sein, unverstanden, falsch gelesen, dann sieht man die Nicht-Authentizität. Jedem selbst Erlebten ist ein sehr unverwechselbarer Schwung im Mitteilen eigen, ein Faszinosum, das seinen Ursprung in der Übereinstimmung von Ich und Ereignis hat, nie wird man die Mitteilung eines intensiv Erlebten öde, langweilig, unauthentisch oder uninteressant finden können. Man wird als Empfänger bereichert, beschenkt um ein selbst nicht Erlebtes, das aber in der Mitteilung, der identischen, bewegten Mitteilung des Erlebt-habenden, zum eigenen Miterleben im Kunstwerk wird.
Der Beschauer braucht nicht zuerst das Was und dann das Wie, sondern er braucht, um ergriffen zu werden, eine unauflösliche Einheit, einen Einklang von Was uns Wie, von Inhalt und Form.
In der mehr oder weniger zum Zeichnen begabten Studentensituation sieht das aber meist so aus: Inhalte sind – durch Sprache meist – begrifflich vertraut, sie sind reichlich vorhanden, auch Ansichten von Welt haben sich längst angesetzt. Meistens äußern sie sich im Begriffsfeld der Sprache oder im Handeln. Dagegen ist das Repertoire des Zeichnens überhaupt nicht da, schwer als solches motivierbar und verstellt durch die Praxis der Begriffe in Sprache und Handeln; das Zeichnen ist nicht mehr unmittelbar, naiv, identisch mit dem Erlebnis, sondern wird als Akt, Anstrengung für sich reflektiert. Es bleibt immer, bei ausbleibendem Gelingen die Frage offen, ob in der anlagemäßigen Substanz des Menschen die Konstellation drin ist, die tatsächlich zum Zeichnen oder Malen führen muß als bestmöglicher Mitteilungs- und Erfindungsform. Die Frage stellt sich auch jedem Künstler immer wieder in Zeiten des Mißlingens, allerdings beim Künstler, der bereits Gelungenes gesammelt hat, führt diese Frage zu anderen Handlungen.
Es muß ganz klar gesagt werden, daß die intelligenteste, stringenteste und genialste Reflexion über Kunst, Zeichnen, Malen etc. überhaupt keinen Weg öffnet, Kunst hervorzubringen. Sie, die Kunst, bleibt in ihrer Ursache geheimnisvoll, und alle Kriterien können nur ein vorhandenes Vermögen promovieren, aber ein nicht vorhandenes werden keine noch so wahren Überlegungen hervorbringen können.
Da in ihrer Gedankensammlung keine unmittelbare Frage auftaucht, was eigentlich hauptsächlich gesucht wird, nehme ich an, daß das Frisch-Zitat eine Art Identifikation mit Ihnen bedeuten soll. Skizze ist für mich selbst die eigentliche Weise des Zeichnens, nämlich nicht ein Gezeichnetes, sondern ein Vorgang eben des Zeichnens, insofern immer unterwegs, nie fix und fertig. Doch die Offenheit rührt nicht vom „ich weiß noch nicht was und wie“ allein, das mag im ersten Kritzeln auch enthalten sein dürfen, sondern tatsächlich daher, mit der Welt nicht fertig zu sein, mit sich nicht fertig zu sein, mit der Erkenntnis nicht fertig zu sein und Betroffenheit des Erlebten vorab aufzuschreiben, damit es zu eigen wird, ohne es zu „frisieren“, d. h. zu befestigen, ohne es zu stilisieren, auch das heißt, Fertiges zu behaupten, wo gar keines erlebt war. Ich allerdings würde nicht mit Frisch soweit gehen, der eigenen Zeit nicht die Vollendung zu wünschen. Ich würde das Unmögliche, die Vollendung, doch in jeder neuen Skizze, in jedem neuen Zeichen treffen wollen, anzielen mit einem Sprung, ich würde es doch als höchstes Gut wünschen, Vollendung nahe zu kommen. 1946-49 mag es historische Überlegungen und Erfahrungen gegeben haben im Schriftsteller, die ihn keine Art definitiver Fertigkeit wünschenswert erscheinen ließen, denn das 1000jährige Reich hatte gerade mit diesen Strukturen elende zwölf Jahre verbracht. Aber das Fertige ist auch nicht das Vollendete. Skizze ist also kein geringerer Anspruch oder gar eine leichtere Sache in der Kunst, sie bezeugt nur eine andere Befindlichkeit des Zeichners, als wenn er eine Idee ausarbeiten will.
Es ließe sich monatelang weiter assoziieren über diese Themen, aber das verstellt nur die reale notwendige, kontinuierliche Erprobung der eigenen Zeichenfähigkeit, ohne die jede Reflexion eine abstrakte Einsicht bleibt, unverbunden mit der Erfahrung, wie Leben oder eben Kunst in die Welt kommen.
Letztere läßt sich nicht erklügeln, sie wird geschenkt, wenn der Mensch sich stetig im richtigen inneren Mittelpunkt schwingend bemüht, den Kräften einen Weg durch sich selbst hindurch zu lassen, damit sie erlebt und abgegeben werden als konzentrierte, in ein Bild konzentrierte Erfahrung von Welt.
Man kann das eben nicht machen, es geschieht, wenn man „reinen, um Nebenabsichten unbekümmerten Herzens ist“, wie sich die Zenmeister ausdrücken!
Ludmilla von Arseniew
Düsseldorf, den 17.1. 1976